Tschechien – Ich denke oft an Prag

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„Sie schreiben Tagebuch? – Ich habe nichts gelesen. Entschuldigung. Aber ich finde es schön, alles authentisch festzuhalten.“

Er ist Gynäkologe aus Köln, ein netter und aufgeschlossener Flugnachbar – anregende Unterhaltung – keine Chance zum Tagebuchschreiben. Aber was soll´s, der Moment zählt, und hier ist es die angenehme Unterhaltung, das ist mehr als Gekritzel auf geduldiges Papier.

Anke sitzt neben mir, genießt den Flug über den Wolken – denkt sie schon an unsere Freunde? Gestern sind alle angereist, wir werden sie verabredungsgemäß in Prag treffen … alles genau nach Plan:

Flughafen Praha – Taxi zum Hotel – vom Hotel durch die schmale Gasse den Berg abwärts laufen – dort stehen unsere Freunde. Schnell geht es weiter per Stadtbahn. Die Straßenbahnlinie 17 fährt rumpelnd und leicht schaukelnd bald an der Moldau entlang Richtung Altstadt und Nationaltheater – unser Treffpunkt mit unserer Stadtführerin.

Wir stehen auf der Brücke des Ersten Mai – aber an den Tag der Arbeit möchten wir jetzt nicht denken, obwohl wir hier in Prag auch nicht nur zum Vergnügen sind, denn vor uns liegt eine anstrengende sightseeingtour. Zunächst genießen wir aber den Blick über die Moldau.

Breit fließt unter uns das Wasser des 425 Kilometer langen Stromes, der hier bei Prag ein weites Tal beherrscht. Eigentlich waren es bisher nur die Klänge, nein, das sinfonische Gemälde von Smetana, das ich mit dem Namen „Moldau“ verbinde. Jetzt fließt der breite Strom unter uns, weit in großen Schwingungen, fremd unter dem Namen Vitava und überspannt von steinernen Brücken.

Vor uns fällt der Blick auf die Karlsbrücke, die berühmteste der 9 Moldaubrücken – wenn ich alle Brücken im Stadtplan richtig erkannt habe. Den gestreckten Höhenrücken am linken Moldauufer beherrschen die gewaltigen Bauwerke der Prager Burg, überragt von den zwei spitzen Türmen des Domes St. Veit. Eine Vielzahl von weiteren Türmen ragt spitz in den Himmel.

Stadt der hundert Türme, Magische Stadt, Goldene Stadt, Paris des Ostens – geläufige Definitionen dieser 1,2 Millionen Einwohner großen Metropole.

Auf der anderen Straßenseite liegt das Nationaltheater, ein gewaltiger Neorenaissancebau mit zurückversetztem, geschwungenen Dach, 1881 mit Smetanas Oper „Libussa“ eröffnet.

Ich wage einen kurzen Blick in das gegenüber liegende berühmte Kaffeehaus Slavia – Anlaufpunkt kunst- und diskussionsinteressierter Tschechen. 

Ab jetzt sagt uns unsere Stadtführerin, wo es lang geht, zügig, denn es gibt so viel zu sehen in Prag. Und so zeigt die Mitschrift des Tagebuches nur stichwortartig die weiteren Stationen:

Karlsstadt, romanische Rotunde, die älteste Kirche der Stadt, 12. Jahrhundert.

Weiter vorbei an 3-4-geschossigen Häusern des 19. Jahrhunderts: „moderne Miethäuser“ der Stadt mit prachtvollen Stuckfassaden, durchaus gepflegt und renoviert.

Karl IV gründete im 14 Jahrhundert diesen Stadtbereich  mit seinen prachtvollen Häusern … und dem Bordell !

„Haben Sie notiert: Bordell“, wiederholt ein Tourist neben mir für mich zum Mitschreiben und kichert leise.

Die nächste Station: die Bethlehems Kapelle – 1391 von Prager Patriziern gestiftet, berühmt für protestantische Predigten. Von hier aus wurden die Ideen der Hussiten, Utraquisten und Taboriten verbreitet – sollen wir jetzt in die Geschichte des 14. Jahrhunderts einsteigen, die Spannungen zwischen Adel und Klerus, Tschechen und Deutschen nachspüren –unsere Stadtführerin referiert, während wir staunend die barocken Häuser am Bethlehemplatz bewundern. Wie eine 5. Fassade wirkt das Pflaster der Wege, schwarz-weiße Granitsteinpflaster-Muster, auch dieses als Zeichen der alten reichen Stadt des goldenen Zeitalters.

„Alles wie in alten Zeiten“, strahlt die Stadtführerin – besonders in den engen Gassen. Wir laufen durch die Ceciliengasse, 50m sind es von hier bis zur Hauptstraße, die zur Karlsbrücke führt. Dort schiebt sich eine Touristenmasse durch die Straße. Dagegen ist es hier ruhig, so dass wir uns hier ungestört hineinträumen können in die mittelalterliche Altstadt. An jeder Ecke möchte man verweilen, die Straßen und Gassen im Bereich des Altstädter Rings haben es mir angetan:

König Wenzel I ließ die Stadtmauer errichten und verlieh der Staré Mesto, der „Alten Stadt Prag“ 1235 deutsches Stadtrecht Unter Karl IV entwickelte sich die Stadt den Geschichtsbüchern zufolge zu einer der glanzvollsten Städte Mitteleuropas.

Wir erreichen die Heilige Annakirche, errichtet im 13 Jahrhundert. Völlig verwüstet und ohne Dach war aus Kriegszeiten nur noch eine Ruine übriggeblieben. Erst seit 2004 dient sie renoviert durch Mittel einer Stiftung als Ausstellungs- und Konzerthalle der Allgemeinheit.

Auch das Dominikanerkloster St. Ägidius hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Ein gotischer Bau, im 16. Und 17. Jahrhundert barock durch die Dominikaner umgebaut. Erst nach der politischen Wende werden die Klostertrakte wieder von den Dominikanern genutzt. Wir bestaunen die reichen Fresken, goldenen Verzierungen und üppigen Wandmalereien aus dem Barock.

Ein schmaler Durchgang führt durch ein Haus, und auch hier mischen sich die Baustile: Renaissance Bögen und barocke Bauelemente zeigen die Pracht der Vergangenheit auf.

„Das ist das Haus mit dem Eisernen Tor“ werden wir auf eine weitere Besonderheit hingewiesen. Tatsächlich verschließt ein schmiedeeisernes Tor den Eingang zu einem Restaurant. Das Café Bogner hat im Innenhof einen Kaffeegarten eingerichtet, aber es ist voll belegt, denn die kleine Gasse liegt in der Nähe des Wenzelsplatzes, dem berühmtesten aller Prager Plätze und dem Zentrum der Neustadt, ja der Gesamtstadt.

Aber bevor wir uns in das Gewühl und Touristengedränge dieses Platzes begeben, werden wir weiter durch enge Gassen geführt. Schwibbögen überspannen die Melantrichova, eine reizvolle Altstadtgasse mit beeindruckendem Gebäudebestand nicht weit vom Altstädter Rathaus. Auch dieser Name trägt tschechische Geschichte in sich: Er erinnert an den tschechischen Buchdrucker Melantrich, der 1511 bis 1580 lebte und immerhin für die damalige Zeit ein fast biblisches Alter erreichte. An vielen der Gebäude ist die Geschichte erlebbar, ja anfassbar: Der mittelalterliche Mauerkern ist überformt von Renaissance- oder Barockfassaden – ich will nicht behaupten, dieses auch wirklich erkennen zu können, aber die Ausstrahlung dieser Gebäude, ihre bauliche Situation und die Details zwingen zum Staunen und zum Wohlfühlen in diesen städtischen Räumen.

Das Haus „Zu den zwei goldenen Bären“ an der Ecke zum Ledergässchen schmückt ein fein gemeißeltes Spätrenaissanceportal aus der Zeit um 1590 mit einst vergoldeten Bärenreliefs. Holzfassade im Erdgeschoss, vier Wohngeschosse darüber – wieder mit der Ausstrahlung und Elegance einer langen und interessanten Geschichte. Egon Erwin Kisch schreibe ich als Stichwort in mein Notizbuch. Eine kleine Gedenktafel weist an dem Haus auf diesen 1885 bis 1948 als „rasenden Reporter“ lebenden Tschechen hin, der mit Franz Kafka zum deutschsprachigen Literaturkreis zählte und einer der bedeutendsten Reporter des 20igsten Jahrhunderts war.

30.000 bis 50.000 Kronen soll hier der Quadratmeter Wohnraum kosten – die Altstadt Prags ist begehrt, nicht nur von Touristen.

Wir erreichen den Gallenmarkt, der im 14. Jahrhundert entstand und heute an Wochentagen dem größten Obst- und Gemüsemarkt Prags Platz bietet. Eine Einkaufszone mit alten Läden ist der Anziehungspunkt unzähliger Touristen. Ich bestaune die Häuser: 1230 gebaut steht auf einer Tafel, im Erdgeschoss und 1. Obergeschoss waren die Wirtschaftsräume, im 2. Geschoss wohnte der Besitzer, in 3. Geschoss lebte die Dienerschaft – auch hier die Ausstrahlung der reichen Prager Vergangenheit.

Wir gehen an den großen gotischen Toren der Karlsuniversität vorbei – von Kaiser Karl IV 1348 als erste Hochschule Mitteleuropas gegründet, heute werden hier 40.000 Studierende unterrichtet – in dem heute ältesten noch genutzten Universitätsgebäude des Kontinents.

Am 29. 10. 1787 – fast auf den Tag genau vor 218 Jahren fand hier im Ständetheater die Uraufführung von Mozarts Don Giovanni statt. Nur 10 Monate zuvor am 11. Januar 1787 war Mozart mit seiner Frau Konstanze als Gast des Grafen Thun von Prag in der Stadt eingetroffen und hatte sich dazu überreden lassen, zum üblichen Honorar von 100 Dukaten eine neue Oper für die Prager Bühne zu schreiben. Und ihm war offenbar nichts Besseres eingefallen als über den berühmten Liebhaber der Weltliteratur zu schreiben. Mozarts Musik hin oder her – beeindruckender ist doch wohl das, was zwischen den Arien passiert: Die Liebesaffären des historischen Playboys werden in einer Registrierarie wie folgt zusammengezählt: 1003 Liebesaffären in Spanien, 640 in Italien, 230 in Deutschland, 100 in Frankreich und 90 in Persien!!

Schnell weiter und lieber mit Konzentration zurück zu unserer Gegenwart. Schließlich gehört Prag zu den wenigen Städten, in denen man kubistische Architektur bewundern kann. Am Obstmarkt besichtigen wir ein solches kubistisches Haus von 1913: Das „Haus der schwarzen Mutter Gottes“ wurde als erstes kubistisches Haus in Prag errichtet. Buchladen und kleines Museum sind im Erdgeschoss untergebracht. Im Jahre 2004 wurde im 1. Obergeschoss ein kubistisches Café wieder eröffnet.

Im tropfenförmigen Treppenhaus gehen wir ins Obergeschoss, genießen das Ausruhen, den Kaffee und …türkisfarbenen Absinth! Dieser berühmt-berüchtigte Wermutschnaps der 20iger Jahre. Wir haben ihn auf der Getränkekarte entdeckt und probieren ihn natürlich. Erst später erfahren wir, dass dieser Schnaps heute wieder up to date ist, zum Glück wohl in harmloserer Ausführung als in den 20iger Jahren.

Gut gestärkt geht es weiter durch enge, teilweise überbaute Gassen der Altstadt. Drei bis vier Meter unter uns liegen die Grundmauern historischer Häuser. „Wir laufen auf der Ebene des 2. Stockwerkes eines alten gotischen Hauses“, erläutert die Stadtführerin und weist auf die gemauerten Bögen an den Wänden des Durchganges hin. „Dieses waren die Fensteröffnungen im 2. Stockwerk des alten romanischen Hauses“, sagt sie. Da das Grundwasser von unten drückt, schien es den späteren Baumeistern sicherer, auf dem alten Bauschutt aufzubauen als immer nur auf gewachsenem Boden. Das erinnert an die vielen Schichten historischer Epochen, die im alten Troja nach und nach freigelegt wurden.

Wir kommen zum Altstädter Ring und erreichen die Teyn-Kirche, die Ursprünge reichen bis 1230 zurück und so ist die Kirche nach dem Dom der bedeutendste gotische Sakralbau Prags. Wir befinden uns hier auf dem Altstädter Markt. Den Platz beherrschen das Altstädter Rathaus mit der Astronomischen Uhr, die Teyn-Kirche und das Jan-Hus-Denkmal. Wie so viele Städte hat sich auch Prag an alten Handelswegen entwickelt. Schon ab dem 10. Jahrhundert gründeten erste Kaufleute feste Niederlassungen, die alten Geschäftswege liefen auf dem „Großen Markt“ zusammen. Mit rund 9.000 qm ist er bis heute ein wichtiger städtischer Raum gesäumt von Häusern und Bauwerken, deren Ursprünge bis ins 11. Und 12. Jahrhundert zurück reichen.

Beherrscht wird der große Marktplatz – von den unzähligen Touristen einmal abgesehen – von dem überragenden Bauwerk der Kirche St. Maria vor dem Teyn. Die heutige Kirche wurde in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts an Stelle des romanischen Vörgängerbaus errichtet. Die markanten Zwillingstürme von schlanken Ecktürmchen bekrönt erheben sich 80m hoch über den Platz in ocker bis schwarzen Farben der Fassadensteine und der Dacheindeckung.

Langsam dämmert es. Die Gebäude am Markt werden angestrahlt und erhalten so einen feierlichen Glanz.

Aber für uns ist die Besichtigungstour noch nicht zu Ende. Nördlich anschließend an die Altstadt liegt die Josefstadt. Bereits mit den ersten Kaufleuten kamen auch jüdische Händler auf den Handelswegen nach Prag, siedelten sich hier an und so entwickelte sich eine der ältesten und berühmtesten Judenstädte, zeitweise die größte Europas. Die räumliche Enge des ummauerten Gettos, keine Ver- und Entsorgung, Dirnen führten zu einem Verfall dieses alten Stadtteiles. 1893–1912 wurde der Großteil abgerissen und um 1915 bis 1920 neu aufgebaut. Viele Jugendstilhäuser liefern Zeugnisse dieser Aufbauphase.

Die Koffer sind wieder für die Rückfahrt gepackt, bei uns passt jedoch noch etwas hinein: Wir fahren schnell zum Supermarkt Becherovka und Wein kaufen. Absynth gibt es hier keinen, vielleicht später am Flughafen. Die Discounter haben hier täglich bis 22 Uhr, sonntags nur bis 21 Uhr offen. Das Durchschnittsgehalt beträgt in Tschechien ca. 600 Euro, erfahren wir.

Es heißt Abschied nehmen, und während die anderen Freunde noch eine Besichtigung des jüdischen Friedhofs durchführen, haben wir noch Zeit für einen Spaziergang.

Bergauf gehen wir durch die älteren Wohngebiete, Einfamilienhäuser mit tollem Blick ins Moldautal und auf die Dächer von Prag. An einer Grünanlage kommen wir an die Abbruchkante des Moldautales und haben einen Super-Blick weit über die Dächer von Prag und in das große Moldautal.

Auch von hier aus beherrscht die Prager Burg die Silhouette der historischen Stadt. Weit entfernt erkennen wir die dicht und hoch bebauten modernen Neubaugebiete, Großwohnsiedlungen des Sozialismus.

Im Duty-free Shop gibt es dann für 498 K „unseren“ türkisfarbenen Absynth, es gibt ihn auch in Rot. 70% Alkohol ! 2 Dosen Bier noch dazu und 1 Tasse Kaffee – und unser gesamtes tschechisches Geld ist alle ! Gut so, denn der Rücktausch hätte bestimmt 40% Einbußen eingebracht. Der Absynth wird zu Hause der Renner ! Immer wenn Freunden zum Abschluss einer Feier oder eines Treffens etwas ganz Besonderes angeboten wird, schenken wir einen Tropfen Absynth aus – meist zwischen 2 Uhr und 4 Uhr nachts ! Und wer bis dahin noch klar denken konnte – danach bestimmt nicht mehr – ein bisschen scheint der Absynth noch den Geschmack der 20iger Jahre zu haben, aber nicht der goldenen, eher der etwas düsteren !

Pünktlich startet der Flieger. 25 Minuten später sind wir 7.300m über Bayreuth sausen mit 850 km/h Köln entgegen. Draußen ist es minus 37 Grad Celsius kalt. Der Flugkapitän kündigt für Köln 12 Grad Celsius und leichte Regenschauer an.

Auch der Gynekologe aus Köln mit seiner Frau ist wieder mit uns an Bord. „Wie hat Ihnen die Laterna magica gefallen ?“, fragt er uns. Sie waren offensichtlich mit uns im Theater, Wir haben sie nicht gesehen. Auch einen alten Bekannten habe ich dort getroffen – man trifft sich eben in Prag !

Und jetzt …

                   ich denke oft an

                                       Prag

Und hin und wieder gibt es dann auch einen Becherovka oder manchmal noch einen, und dann denke ich ganz, ganz toll an Prag !