Mystische Stimmungen in Matsch und Moor

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Wanderungen im Hohen Venn

Fotos: Inna und Nils Naumann

Schon die Anreise lässt uns dieses Mal erahnen, dass wir Besonderes erleben werden: Das Land der Monster-Hecken, so wird das Monschauer Heckenland tituliert – und so erleben wir auf unserer Anreise zum Hohen Venn Dörfer um Monschau mit ihren besonderen historischen Heckenkonstruktionen. Es sind bis zu ein Meter dicke und 6 bis 10 Meter hohe Rotbuchenschutzhecken als historische Hecken aus dem 17. Jahrhundert. Teilweise bis zu 40 Meter lang umschließen sie die Häuser und Gehöfte. In die mit einer speziellen Flechttechnik eng verästelten Hecken sind Torbögen und „Fensteröffnungen“ hineingearbeitet. Bis Ende März hält die Rotbuche das welke Laub an den Zweigen, so dass ein Wind- und Wetterschutz entsteht, der jetzt nach rund 400 Jahren in Zeiten der Energiekrise wieder besondere Bedeutung hat. Rund 1000 Exemplare dieser Schutzhecken soll es in der Region um Monschau und Simmerath bis nach Belgien hinein noch geben.

Die hoch aufragenden braunen Blätterwände, an denen wir staunend vorbei fahren, sind in dem südwestlichen Stadtteil Monschaus auch ein Zeichen der besonderen Wetterlage: Kalterherberg, der Ortsname steht für eine feuchte, kalte Westwetterlage auf 560 m ü. NHN direkt am Rande des Hohen Venns. Die typischen alten Häuser des Dorfes, Bruchsteinhäuser als Langhäuser mit Kamin und weit heruntergezogenen Dächern, verkriechen sich förmlich hinter den hohen Buchen-Windschutzhecken. Auch das Torflager hatte früher seinen Platz im Haus, aber das Heizen mit Torf ist längst Geschichte. Geblieben ist allerdings der kalte Westwind und ein erheblicher Jahresniederschlag, der mit 1386 mm je qm und Jahr mehr als doppelt so hoch ist, wie z. B. in Bonn (ca. 660 mm / Jahr).

Dass diese Besonderheit das bestimmende Element dieser Tour werden wird, ahnen wir jetzt noch nicht.

Es fängt an zu regnen, als wir uns der deutsch-belgischen Grenze nähern. Auch die Landschaft ist hier von langen Flurhecken durchzogen, so dass sich dieses charakteristische Merkmal weiter fortsetzt. Ein paar Schilder und die Stimme des Navigationsgerätes machen uns darauf aufmerksam, dass wir in Belgien sind. Unser Ziel ist kurz hinter der Grenze der Ort Weismes. Das Regenwetter und die hohen Hecken bleiben wie vorher, aber die Menschen sprechen plötzlich meist nur französisch oder englisch.

Auch wenn sich das Wetter immer weiter verschlechtert und der feine Nieselregen in Dauerregen übergeht, schmieden wir in unserer gemütlichen Ferienwohnung Pläne für die nächsten Tage, denn wir wollen das Hohe Venn und hier den belgischen Teil des Nationalparks Hohes Venn / Eifel erkunden.

Ein bisschen Nostalgie schwingt bei uns mit: Es war Ende der 1970ger Jahre / Anfang der 1980iger, als wir von Bonn aus das erste Mal im Hohen Venn unterwegs waren. Es war Winter und die fast baumlose Hochmoorebene war so mit einer weißen Schneedecke überzogen, dass man sich wie in einer nordischen oder gar arktischen Schneelandschaft fühlte. Warum in die Arktis reisen, wenn wir die kahle Schnee- und Eislandschaft vor der Haustür haben – nur gut 100 km von Bonn entfernt.

Zusammen mit Freund Werner waren wir unterwegs, damals noch querfeldein auf Langlaufskiern durch die Schneelandschaft. Für unsere Pausen hatten wir Brote und Getränke im Rucksack. Was wir nicht bedachten: Die Skier gleiten manchmal schneller, als der Körper es will und so landete Werner auf dem Rücken.

„Nichts passiert!“, rief er lachend und schüttelte den Schnee ab. Als er kurz danach eine kleine braune Spur im Schnee hinter sich ließ, prüfte er seinen Rucksack: Ein Tetra Pak mit Kakao war geplatzt und alles hatte sich in den Rucksack ergossen, nun sickerte alles durch die Nahtstellen heraus. – Aber nicht nur solche Ereignisse bleiben unvergessliche Erlebnisse gemeinsamer Venn-Touren, die oftmals erst bei Sonnenuntergang zu Ende gingen.

Am nächsten Tag genießen wir erst einmal ein tolles Frühstück und die kuschelige Wärme in der Ferienwohnung. Der andauernde Nieselregen lockt uns so schnell nicht nach draußen. Dort saust gerade ein Eichhörnchen über den Garten vor unserem großen Terrassenfenster. Mit hastigen Bewegungen springt es in Richtung Hecke und verschwindet schnell in der rund 6 Meter hohen Buchenblätterwand. Dann sind auch wir bereit für unsere Moor-Tour.

Ein befestigter Weg führt uns zunächst aus dem Ort an den Moor-Rand. Hohe Hecken und knorrige Bäume säumen den Weg. Bald wird es offener. Eine leichte Brise weht uns den kalten Nieselregen ins Gesicht als die Landschaft offener wird. Der Weg ist so matschig und hat so viele Pfützen und Wasserlöcher, dass unsere Schuhe bald durchgeweicht sind. Aber irgendwie ist es trotz allem die richtige Moorstimmung!

In früheren Zeiten hat man das Moor wie eine Zwischenwelt empfunden: Es war nicht festes Land und nicht nur Wasser. Und jetzt erleben wir selbst die Luft voller Regenwasser. Dichte graue Regenwolken verwandeln Moor und Vegetation in eine mystische Szenerie, als wären wir in einer Feen- oder Geisterwelt gelandet.

230 Tage Niederschlag gibt es statistisch im Hohen Venn, 178 Tage sind durchschnittlich nebelverhangen – die mystische Stimmung, die wir gerade bei unserer Wanderung erleben ist also typisch – so trösten wir uns bei unserer matschigen Moor-Tour. Dichte Wolkenpakete versperren uns den Blick auf den Himmel, graue Nebelschwaden ziehen über den Boden – es ist also doch eine Welt für lebendig gewordene Mythen. In den dunklen Moorlöchern schlummern sicher noch viele Geheimnisse.

Nur einzelne Bäume überleben die sumpfig nassen Standorte. Um eine Verbuschung zu verhindern, versucht man an einigen Stellen, die Vegetation zu roden und das Moor wieder zu vernässen. Uns ist gerade nass genug! Aber im Moor wird es Zeit, dem Torfmoos, Sonnentau und Wollgras eine neue Überlebenschance zu geben.

Bald geht es über teilweise etwas wackelige und morsche Bohlenwege durch das nasse Moor. Wasserlöcher, Torfmoos, Wollgras- und Pfeifengrasbulten sowie Besen- und Glockenheide zeigen um uns herum, dass hier das Hochmoor noch eine Chance hat, weiter zu wachsen, Dank Wiedervernässung, Abholzung und weiterer Naturschutzmaßnahmen.

Rund 1000 Jahre alt ist das Hohe Venn, eine der urwüchsigsten Landschaften in der Eifel und den Ardennen. Aber eigentlich ist es in der heutigen Form eher eine von Menschen geprägte Sekundärlandschaft, denn vor rund 10.000 Jahren, zum Ende der letzten Eiszeit, bedeckte Laubwald große Flächen. Buchen, Erlen, Birken, Eichen und andere Laubbäume hatten sich ausgebreitet und nur hier und da gab es Moorflächen und Sumpfgebiete. Ab dem Mittelalter setzte eine erste intensive menschliche Nutzung ein: Im 17. Jahrhundert  erfolgten Abholzungen, Beweidung, landwirtschaftliche Nutzungen und auch das Torfstechen trug an vielen Stellen dazu bei, dass die natürlich gewachsene Struktur sich veränderte. So entstand eine ausgedehnte Heidelandschaft. Im 19. Jahrhundert erfolgte dann durch Entwässerung und Fichten-Aufforstung eine weitere Veränderung. Viele dieser Spuren sind auch heute noch erkennbar, aber seit der Unterschutzstellung 1957 gelingt es, besonders die offenen Heide- und Moorflächen zu erhalten und so die besondere Artenstruktur der Moor- und Heidelandschaft wieder zu entwickeln.

Wie aus dem Moor herausgeschnitten gibt es hohe Fichtenbestände, an denen der Weg entlang führt, alte Zeichen einer Moornutzung, wie es die Preußen um 1900 mit ihren Aufforstungen durchgeführt haben.

Auch andere Spuren der Vergangenheit liegen heute auf unserem Rundweg über die reparaturbedürftigen Holzstege: Der „Weg des Gedenkens“ und das „Croix des russes“ sowie ein Denkmal der britischen Luftwaffe vom 2. Weltkrieg mit verbogenen Propellern eines abgestürzten Flugzeuges.

Die Rundtour ist zwar als „leicht“ beschrieben und fast etwas kurz, aber wir sind bis auf die Unterwäsche durchweicht und freuen uns auf ein gemütliches Kaffeetrinken in der warmen Ferienwohnung im Schutz der großen Rotbuchenhecke.

Von unserer Unterkunft sind es nur acht Minuten Autofahrt bis Baraque Michel und wir starten – wieder bei Nieselregen – an der Kapelle Fischbach. Ein Schild weist uns auf die Geschichte dieses Ortes hin: „Die Kapelle der Hl. Mutter der Zuflucht wurde 1830 auf Initiative des Malmedyer Industriellen Henri Toussaint Fischbach erbaut und vor kurzem restauriert. Sie trägt einen kleinen Glockenturm und am Giebel ist eine Laterne angebracht. Die Familie Schmitz, Eigentümer der Baraque Michel, hatte sich verpflichtet, diese jeden Abend für die Verirrten in der rauen Heidelandschaft, anzuzünden. Dieses Gelöbnis wurde bis 1856 eingehalten.“

Ob wir dieses Rettungslicht heute Abend benötigen?

Auf einer alten Holzbohlenstrecke führt der aufgeweichte Weg direkt durch das Venn. Ockerfarben, fast goldig, glänzt trotz des grauen Wetters das Pfeifengras, das inzwischen umgeknickt die Bulten bedeckt. Rotbraune Heideflächen und dunkelbraune Wasserlöcher schaffen wieder die so typisch Moorstimmung. Die wir trotz – oder vielleicht sogar wegen des diffusen Wetters genießen.

An einer kleinen Beobachtungskanzel machen wir Picknick. Der Blick geht in die weite Moorlandschaft. Hoch über dem Moor im grauen Wolkenmeer sind laute Rufe zu hören. Ein Trupp Kraniche zieht offensichtlich Richtung Norden vorüber. Laut sind die trompetenartigen Rufe, mit denen sich die Vögel auch im Flug verständigen, zu hören. Mit ihren 100 cm bis 130 cm langen Luftröhren, die als Resonanzraum wie bei einer Trompete wirken, erzeugen sie die charakteristischen Laute, die weit über das Moor schallen. Zu sehen sind die „Vögel des Glücks“ – wie sie von den alten Griechen genannt wurden – nicht. Im grauen Dunst verhallen bald ihre Rufe. Auch wenn es zu dieser Jahreszeit im Februar im Moor eher einsam und sehr ruhig ist, so bleibt es doch immer geheimnisvoll.

Zwischen Moor und Waldgebieten geht es weiter. Die Baumwurzeln der knorrigen Bäume erschweren das Gehen zumal sich das Regenwasser zwischen den Wurzeln staut. So beenden wir die Rundtour wieder etwas durchfeuchtet freuen uns über die belgischen Spezialitäten in der Gaststätte Baraque Michel: Ich bevorzuge eine Rijsttaart oder Tarte au Riz, die himmlisch cremige Milchreistorte, während die anderen lieber zum belgischen Bier vom Fass mit deftigem Ardennenschinken und Wildpastete greifen. Wir können uns kaum überwinden, wieder in die graue Regenwelt zu gehen, um den Rückweg anzutreten und uns mit weiteren Proben belgischer Biersorten in der gemütlichen Ferienwohnung zu verkriechen.

Am kommenden Tag will sich das Hohe Venn offenbar in seiner vollen Größe und Schönheit präsentieren: Die Sicht ist klar bis zum Horizont, die Wolken haben sich verzogen und die Sonne scheint. So haben wir auf unserem Weg zur Aussichtsplattform unweit der Botrange, dem mit 694,24 m höchsten Punkt Belgiens einen weiten Blick über die riesigen weitgehend kahlen Moor- und Heideflächen des Hohen Venn.

Von hier aus haben wir vor einigen Jahren im Frühjahr sogar das Wappentier des Venn gesehen, wenigstens als kleinen Punkt in sehr großer Entfernung: Birkhähne. Die Geschichte der Birkhühner im Venn ist dramatisch, aber auch hoffnungsvoll: Zeitweise gab es im Venn nur noch wenige Exemplare dieser Raufußhühner. 2017 wurden 10 Exemplare aus Schweden hier im Moor ausgewildert und 2018 noch einmal 18 Exemplare, nun hoffen alle, dass sich das Wappentier des Nationalparks hier wieder heimisch fühlt. Von ersten Bruterfolgen wird berichtet. Die Zahl der Birkhühner und –hähne soll auf 35 angewachsen sein. Mich erinnert das an meine Erlebnisse bei der Birkhahnbalz im norddeutschen Moor in den 1970iger Jahren und die herrlichen Bilder gehen mir durch den Kopf:

Erinnerungen aus den Jahren 1969 und 1972: Birkhahnbalz im norddeutschen Moor, heute sind sie hier ausgestorben

Von einer weiteren Tierart, die im besonderen Fokus menschlicher Beobachtung steht, haben wir im Nationalparkhaus erfahren: Ein Rudel von insgesamt 12 Wölfen soll es im Nationalpark geben.

Der weite Blick geht über die zentralen riesigen Flächen des Hohen Venn, die sich in unseren dicht besiedelten Ländern Deutschland und Belgien fast unwirklich kahl bis zum Horizont erstrecken. Die Gegend wird auch als das Dach Belgiens bezeichnet, denn die großen Flächen liegen auf einem bis zu 694 Meter hohen Schiefer-Gebirgskamm. Der wasserstauende Boden und das besondere Klima, das hier fast arktische Züge mit vielen Schneetagen, Eis und Nässe hat, haben hier eine Landschaft geschaffen, die wie aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Sie erscheint uns unwirklich und mystisch. Die Uhr tickt langsamer im Moor, dem Hohen Venn.