Koreanische Reistafel

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Begegnungen während einer nachhaltigen Forschungsreise nach Südkorea

Die Reise fand 1992 im Rahmen einer geförderten Forschungsarbeit statt. Auch aus heutiger Sicht waren die Begegnungen und Erlebnisse in Korea so eindrucksvoll, dass ich beschloss, sie in einer Reisebeschreibung zusammen mit den damals gemachten Fotos fest zu halten. Die wissenschaftlichen Ergebnisse wurden in einer Dokumentation vom 30.10.1992 deutsch/koreanisch zusammengefasst.

Jon Bo und Dog Song sitzen mir gegenüber, eine typische Reistafel steht auf dem Tisch vor uns: Viele kleine Schalen mit duftenden Köstlichkeiten: Mariniertes Rinderfilet, gebratene Glasnudeln, gefüllte Auberginen, Miyeokguk (Koreanische Algensuppe), knusprige Ente und gebackene Garnelen. Es duftet nach Piment, Sesam, Ingwer und Knoblauch und natürlich gibt es Reis. Reis, das ist etwas, das es in Korea bei jedem Essen gibt und Kim Chi, der fermentierte, scharf eingelegte Chinakohl, wird schon zum Frühstück gereicht. Man merkt es gleich beim Essen: Korea ist ein Land, in dem die Moderne und die Tradition so eng verwoben sind, wie in kaum einem anderen Land. Die Menschen sind in den großen Städten nicht nur in der Moderne angekommen, sondern sie prägen diese weltweit mit ihren Erzeugnissen, ihrem Umgang mit den Medien und vielem mehr. Und dennoch sind die Traditionen in sehr vielen Lebensbereichen erkennbar – auch beim Essen mit Löffel und Stäbchen.

Für mich wird das koreanische Reismenü mit meinen zwei Gesprächspartnern wie eine Reise in die Vergangenheit. Es war eine Forschungsreise zu den großen Wohnhochhaussiedlungen von Taejon und Seoul.

Das rasante Bevölkerungswachstum und die ehrgeizigen Bestrebungen der Nation führten seit den 1970iger Jahren in Südkorea zu einem enormen Bedarf an neuen Wohnungen, Infrastruktur und zu städtebaulichen Entwicklungen wie in kaum einem anderen Land. Kein Wunder also, dass koreanische Ingenieure und Wissenschaftler den Weg nach Europa suchten und da insbesondere nach Deutschland. Das Wachstum deutscher Städte, der Bau von Großwohnsiedlungen und der Bau großer Infrastrukturprojekte wurde als Vorbild gewertet, das es zu studieren lohnte. Dass in Deutschland bereits mit dem Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 eine Rückbesinnung zu den traditionellen Vorstellungen der Siedlungsentwicklung begonnen hatte, wurde in Korea damals noch nicht gesehen.

So reisten wir in einer kleinen Delegation mit unseren Forschungsergebnissen, dem Vergleich von Großwohnsiedlungen in Deutschland und Korea, nach Taejon und Seoul und erlebten dort den Spagat zwischen Tradition und Moderne.

Wohl kaum ein Land im fernen Osten hat die deutsche Entwicklung Ende der 80er/ Anfang 90er Jahre mit solch einem Interesse verfolgt wie Korea. Auch vor diesem Hintergrund stieß das Forschungsprojekt zusammen mit Wissenschaftlern der Fachbereiche Architektur und Städtebau aus Hannover und Taejon, einer 1,5 Mio. Einwohner-Stadt im Zentrum von Südkorea, auf großes Interesse. Gefördert wurde das Projekt von der deutschen Forschungsgesellschaft. Ziel der Forschung war es, die Entwicklung großer Wohnsiedlungen in Korea und Deutschland aufzuzeigen. Die Ergebnisse konnten wir dann 1992 in Deutschland und in Korea, Seoul und Taejon, vor der dortigen Architektenkammer vorstellen. Es war für mich wie die Reise in die Vergangenheit zu alten Tempelanlagen und Dörfern, aber auch in die Zukunft aufsteigender Metropolen mit unvorstellbar großen Hochhausbaustellen. Und es war eine Reise mit vielfältigen Eindrücken auch der fernöstlichen Kultur.

Natürlich gehörte die Einladung der Seouler Architektenkammer zu einer koreanischen Reistafel mit zum Programm. Jeder bekam eine Geisha zur Seite, die in Korea Gisaeng genannt werden. Die Frauen in traditionellen Gewändern führten die gewünschten Speisen geschickt und mit langen Ess-Stäbchen in den Mund des Gastes. Sie waren perfekt ausgebildet und schienen zu erahnen, was sich der so Verwöhnte gerade für eine Speise wünschte. Ein Abend in Seoul ist allerdings noch nicht mit dem Essen beendet, und so ging es bald durch überfüllte, enge Gassen. Grell erleuchtet und voller schriller Musik aus unzähligen Lautsprechern waren die Straßen der Innenstadt. Vor uns stand plötzlich am Straßenrand ein Gefährt mit einer großen Pfanne über einem Gasbrenner.

„Probieren?“, fragte mich unser koreanischer Begleiter. Aber irgendwie war mir mulmig, der Pfanneninhalt bestand aus frisch gebratenen Würmern. Ob es Seidenraupen oder die in Südostasien verbreiteten Sagowürmer waren, spielte bei meiner Einstellung keine Rolle. – Appetit stellte sich bei mir nicht ein. Die lebenden Würmer werden in heißes Öl gegeben und 5 Minuten pfannengerührt, bis sie weich sind. Zum Glück hatte mir die Gisaeng dieses Gericht nicht in den Mund gestopft.

Abends in Seoul zu sein, heißt in den meisten Fällen: Du landest in einer Karaoke Bar – schrill, laut und eigentlich nur bizarr. Man reicht Bier und Knabberzeug und lässt sich bedröhnen. Vor Krach ist eine Unterhaltung kaum möglich und auch das Beobachten der Gäste ist im Dämmerschein der Barleuchter nicht machbar. Also bleiben das Biertrinken und das Verlangen nach dem Knabberzeug.

„Weißt du eigentlich, was du da knabberst?“ fragt mich unser Begleiter etwas grinsend. Im Dämmerlicht ist nichts wirklich zu erkennen, es ist knusprig, leicht nussig.

„Es sind geröstete Heuschrecken“, meint er lachend und schiebt sich eine Handvoll in den Mund, während ich alles mit einem großen Schluck aus der Bierflasche herunterspüle.

Unser Ziel war es jedoch nicht, das Nachtleben von Seoul zu studieren, sondern wir wollten die großen Neubausiedlungen kennenlernen.

In Seoul leben heute knapp 10 Millionen Einwohner. Die Metropole ist damit größer als New York City in den USA. Mit 16 670 Einwohnern je Quadratkilometer beträgt die Einwohnerdichte etwa vier Mal so viel, wie die Dichte in Berlin. Es ist das Ergebnis eines rasanten Wachstums der Stadt. Von den 1960iger Jahren bis in die 1990iger Jahre schnellte die Bevölkerung von 2,4 Millionen auf knapp 10 Millionen Einwohner hoch. Rechnet man die Satellitenstädte dazu, so lebt heute etwa die Hälfte der rund 50 Millionen Einwohner Südkoreas im Großraum Seoul.

Bei unseren Besichtigungstouren sehen wir Hochhaustürme so weit wie wir es bisher nie erlebt haben. Die Abstände zwischen den Hochhäusern sind dicht. Licht, Luft und Sonne – diese Begriffe, die bis heute die Bauabstände bei uns prägen, spielen in Korea offenbar eine geringere Rolle. Aber die Wohnungen in den Hochhäusern waren und sind sehr beliebt, weil sie bequem und modern sind. So lebt rund die Hälfte der Bewohner Seouls in Hochhäusern.

Aber Seoul hat auch die andere Seite, die wir erleben: Die Metropole wird immer wieder als „buntes, leuchtendes Juwel unter den Großstädten Südkoreas“ beschrieben und ist sicher eine Reise wert. Sie ist eine hektische Stadt, die sich ständig verändert. Ein koreanisches Sprichwort sagt: „Ändere alles, außer Deiner Frau und den Kindern!“. Aber auch das scheint sich zu ändern: Ab Mitte der 1990iger Jahre hat sich die Scheidungsrate jährlich erhöht. Hinter den USA und Großbritannien war die Scheidungsrate in Korea im Jahr 2006 die dritthöchste der Welt. Wenn sich die Rangfolge der Scheidungsraten inzwischen auch etwas verschoben hat, so liegt die Zahl der Scheidungen in Korea immer noch sehr hoch. Auch die Zahl der Neugeborenen ist in den vergangenen 35 Jahren ständig gesunken. Sah die Bevölkerungspyramide um 1980 noch aus wie ein schön gewachsener Tannenbaum, so sind heute die jüngeren Jahrgänge doch deutlich geschrumpft. Es sind wohl die Entwicklungen und Einflüsse der Moderne, die das Leben und auch die Familien verändern.

Bei unseren Ausflügen in die ländlichen Gebiete erleben wir noch die andere Seite Koreas, dort wo die Tradition noch spürbar ist. Die Reisernte erfolgt hier noch ohne Maschineneinsatz. Wir schauen den Reisbauern bei der Ernte zu. Es ist eine harte Arbeit bei 25 Grad Celsius, wir werden dem Reis in Zukunft respektvoller begegnen. Auch die alten Häuser in den Dörfern haben eine besondere Ausstrahlung. Das traditionelle Wohnhaus in Korea wird Hanok genannt und bildete über Jahrhunderte das Standardwohnhaus in Südkorea. Es symbolisiert einen Lebensraum der Koexistenz von Mensch und Natur. Die Philosophie des Bauens bestimmt die Materialwahl: Die fünf Elemente Holz, Ton, Papier, Stein und Metall bilden das Baumaterial. Das koreanische Reispapier Hanji stammt traditionell von der Verarbeitung der jungen Triebe des Papiermaulbeerbaumes. Der deutsche Name nimmt nur Bezug auf das milchig weiße Aussehen des Papiers, das für Fenster, Türen und Schiebewände verwendet wurde.

Vier Gebäudeflügel umschließen einen Hof. Große Vorratskrüge und riesige Kim Chi-Tongefäße stehen im Schatten. Ausgebreitet auf großen Laken liegen rote Chilischoten und Reis zum Trocknen aus. Ein malerisches Bild einer fast vergangenen Zeit. Und wie aus einer Traumwelt tauchen plötzlich Koreanerinnen und Koreaner in historischen Gewändern auf.

Wie sich bald herausstellt, ist es eine Schauspieltruppe. Der kleine Ort wird als Filmkulisse für einen Historienfilm genutzt. So haben wir für einen kurzen Moment die unvergessliche Chance, in die vergangene Welt einzutauchen. Die lange Tradition Koreas ist für uns hier lebendig.

Auch bei den vielen Tempelanlagen ist die Geschichte allgegenwärtig. Seit dem 4. Jahrhundert spielt der Buddhismus in Korea eine beherrschende Rolle, häufig auch gepaart mit schamanistischen Gottheiten. Seit dem 18. Und 19. Jahrhundert hat sich der christliche Glaube ausgebreitet. Auch der Konfuzianismus ist in Korea verbreitet. Aber die größte Gruppe stellt heute die Gruppe der glaubensfreien Koreaner dar. Ist auch das ein Ergebnis der Moderne? Oder ist es nur ein Wettbewerb der Religionen und Lebenseinstellungen? In Korea wird das ganze Leben als Wettbewerb gesehen, Allerdings führt diese Einstellung auch dazu, dass viele Menschen hier in einem ständigen Stresszustand leben.

Dabei wird Korea auch als „Land der Morgenstille“ beschrieben. Vielleicht ist es nur die Abwandlung des Namens, der als erster für dieses Land genannt wird: „Land der Morgenfrische“ hieß das erste koreanische Reich, das 2333 v. Chr. entstand und dann in eine lange und sehr wechselvolle Zukunft hineinschlidderte. Aber genießen kann man die Morgenstille noch heute abseits der Metropolen. Denn Korea ist ein sehr hügeliges Land. Es besteht zu zwei Drittel aus Gebirgen und bietet damit auch ganz andere Eindrücke, als wir auf unserer städtebaulichen Reise erleben konnten.

Korea ist bekannt für seine herbstliche Farbenpracht. Besondere Baumarten und ein beständiges Herbstklima bilden die Ursache. Uns fallen vor allem die Ginkgo-Bäume auf, die mit gelbem Herbstlaub leuchten.

Mit feuerroter Farbenpracht der Herbstblätter hat sich der besondere Charme, den wir auf der koreanischen Halbinsel erleben, in unser Gedächtnis eingebrannt – genau so scharf, wie das Kim Chi unserer Reistafel.