Die Suche nach dem Himmelstau

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Entdeckungen an Emsdettemer Venn

„O schaurig ist`s über`s Moor zu gehn…“, der Beginn der Ballade „Der Knabe im Moor“, gedichtet von Annette von Droste-Hülshoff 1842, geht mir nicht aus dem Sinn. Das Gedicht wird als naturmagische Ballade bezeichnet. Sie befasst sich mit dem in der ländlichen Bevölkerung verbreiteten Aberglauben, im Moor gingen die Seelen der unseeligen Toten um.

Dabei löst bei mir das Moor ganz andere Empfindungen aus: Da ist die besondere urwüchsige Landschaft, die seit Jahrtausenden gespeicherten Geschichten, vor allem die herrlichen Flötentöne der Großen Brachvögel und die sanften weißen Büschel der Fruchtstände des Scheidenwollgrases.

Aber auch diese Einstellungen des Naturromantikers beschreiben das Moor nicht in all seinen Facetten. Auf mich haben Moore immer eine Faszination ausgeübt und so sind wir wieder einmal auf der Suche nach dieser besonderen Landschaft: Eine Reise in eine der letzten nordrhein-westfälischen Hochmoore, das Emsdettener Venn bei Rheine

Vom Parkplatz an der Landesstraße L 583 zwischen Neuenkirchen und Emsdetten führt der Weg schnurgerade in Richtung Norden zum Naturschutzgebiet. Am Wegesrand blinken die weißen Kappen der Champignons. Dürfen wir sie mitnehmen? Noch sind wir nicht im Naturschutzgebiet. Aber schnell googeln wir und wissen nun die Antwort.

Frage: „Wie viele Pilze darf man sammeln?“

Google: „Im Regelfall ein bis zwei Kilogramm pro Person und Tag, aber nicht im Naturschutzgebiet“. Ganz besonders gilt der Hinweis der allwissenden Informationsquelle: „Wildtieren droht kein Bußgeld, sollten sie Pilze sammeln und fressen“.

Nun wissen wir es ganz genau und sammeln eine Handvoll kleiner Champignons für das Abendessen.

Am Wegesrand blühen Sumpfporst und Rainfarn und andere Blumen. Besonders der Wasserdost blüht üppig mit großen rosa Dolden und lockt so die Insekten an: Kleine Bläulinge (Hauhecken-Bläuling ?), Kleine Feuerfalter und Kleine Heufalter. Zitronenfalter und Kohlweißlinge gaukeln über den Blüten.

Bald führt der Weg vorbei an einer kleinen Senke. Bei dem trockenen Wetter der letzten Zeit ist kaum noch Wasser in der Mulde. Eigentlich ist es eine der Blänken am Moorrand und die Wiesen sind Feuchtwiesen auf denen sich Große Brachvögel, Bekassinen und Uferschnepfen wohlfühlen. Wir entdecken einen Weißstorch, der auf der Wiese steht. Wartet er auf den nächsten Frosch? Aber die Feuchtwiesen sind auch in diesem Jahr zu trocken.

Ein Stück weiter gibt es noch eine weitere Landschaft, die typisch ist für den Moorrand: Neben dem Weg sieht es aus als müsste man den Wald endlich einmal gründlich aufräumen. Wie in einer urwüchsigen Sumpflandschaft liegen umgestürzte Bäume im Wasser überwuchert von Moosen und einer übrigen Krautschicht. Es ist ein ideales Revier für Ringelnattern und Amphibien. Wir kommen leider nicht dicht genug an und schon gar nicht in das geschützte Gebiet des Birkenbruchwaldes und so bleibt für uns nur die theoretische Möglichkeit, die genannten Tiere zu entdecken.

Ich werde beim Anblick derartiger Sumpfwälder immer an eine Zeit lange vor unserer Zeit erinnert: Die großen Sumpfwälder im Karbon eine Zeit vor ca. 350 bis 300 Millionen Jahren, in der die bis 40 m hohen Schachtelhalm- und Farnbäume in den Sumpf stürzten und im Zuge von Überdeckungen und Verkohlungsprozessen in Jahrmillionen zu Steinkohle wurden. Hier scheinen wir den Beginn eines solchen Entwicklungsprozesses hautnah zu erleben.

Wie aus einer anderen Zeit kommt uns jetzt das Farnkraut vor, das hier wächst: Der Sumpffarn, eine seltene Farnart. Am Moorrand entdecken wir drei weitere Farnarten: Wurm- und Adlerfarn ist der etwas gewöhnlichere Krautbewuchs, aber eine Infotafel verweist auf eine andere seltene Farnart: Den Königsfarn, der seine braunen Sporenkapseln nicht auf den Blattunterseiten, sondern am Ende der grünen Farnwedel hat.

So holt uns die Vorstellung von den Farnwäldern des Karbons immer wieder ein, bevor wir die heutigen Reste des ehemals großen Hochmoores erreichen.

Ein Aussichtspunkt ermöglicht einen weiteren Blick über die offenen Flächen. Auf der einen Seite sind es offene Heideflächen, auf der anderen Seite große freie Feuchtwiesen, die bereits in früherer Zeit dem Moor abgerungen worden sind. Auch dort ist es für uns spannend: Eine Familie von Schwarzkehlchen nutzt einen Baumstumpf als Sitzwarte. Immer wieder landen Alt- und Jungvögel auf in den kurzen Stamm, um von aus Ausschau zu halten und wieder im Gras nach Insekten, Spinnen und Würmern zu suchen, für uns ist es ein schönes Schauspiel, für die Jungvögel ist es eine Lehrstunde und ein Überlebenstraining.

Auf dem Hochmoor geht es zu dieser Jahreszeit im Hochsommer viel ruhiger zu. Die Brut- und Aufzuchtsaison ist für fast alle Vögel beendet, wenn sie überhaupt noch vorhanden sind, verhalten Sie sich ruhig und sind kaum zu entdecken.

Trotzdem behält das Moor seine besondere Ausstrahlung und wir erkunden es in den nächsten Tagen. Auch wenn das Moor nur noch eine kleine Restfläche von rund 100 Hektar hat also rund einen Kilometer Mal einen Kilometer groß ist, so erfolgte die Unterschutzstellung gerade noch rechtzeitig, um dieses Hochmoor im Kerngebiet zu erhalten. Es entstand gemäß den wissenschaftlichen Erkenntnissen vor ca, 5000 Jahren. Eine flache Mulde hatte sich mit Wasser gefüllt, in der sich Torfmoos und Sauergräser ausbreiteten. Die hohe Feuchtigkeit führte dazu, dass es wohl eher eine unbewaldete Fläche war, auf der die abgestorbenen Pflanzenteile die Torfschichten bildeten. So wuchs die Torfschicht bis zu einer Mächtigkeit von fast drei Metern im Kerngebiet an.

Die Bretter des alten Bohlenweges, auf dem wir am Moorrand entlang gehen, geben bei dem weichen Untergrund leicht nach. Wir sind auf dem Torfboden. Am Moorrand blüht die Besenheide, auch Glockenheide und Rosmarinheide sind zu finden.

Während wir auf einer Holzbohle sitzen und um uns die Heide blüht, werde ich etwas melancholisch. Die Kinderoper „Schwarzer Peter“ kommt mir in den Sinn. Der damals so berühmte Tenor Rudolf Schock sang das bekannte Lied „Ach ich hab in meinem Herzen …“, aber bevor ich in eine melancholische Stimmung hineinträume, stößt mich Anke sanft an und zeigt auf die Bohlen vor uns: Eine braune Mooreidechse wollte gerade anfangen, sich zu sonnen, huschte dann aber bei unseren Bewegungen ins Gras und ins Heidekraut. Venn- oder Mooreidechsen sonnen sich gerne auf Totholz oder Altholz, Es ist die einzige lebendgebärdende heimische Echsenart, genau genommen fast lebendgebärdend, denn sie legt Eier in durchsichtigen dünnen Hüllen, die während der Geburt aufplatzen.

Wieder ist es ruhig im Moor. Wir genießen die Stille. Moor und Heide verursachen eine romantische Stimmung, in die sich plötzlich ein munterer Zilpzalp hinein piepst. Er ist offenbar dabei, seine Jungen zu füttern. Die Flügel und Beine des Insekt-Futters ragen aus seinem Schnabel, während er auf dem nahen Ast hockt, Ausschau hält und mit ständigen Rufen seine Jungen warnt. Irgendwie stören wir und gehen weiter den Moorweg entlang, verschwinden zwischen Faulbaum- und Birkenstrauchwerk.

An vielen Stellen finden wir die Spuren früherer Moornutzungen: Die alten Torfstiche sind an vielen Stellen noch heute sichtbar. Vermutlich jahrhundertelang wurde der Torfabbau betrieben und im 19 Jahrhundert wurde es amtlich: 1872 bekam jeder Interessent ein 25 x 50 Meter großes Stück zugewiesen, auf dem er im Frühsommer Torf stechen durfte. In den oberen Schichten war es der Weißtorf, dann kam der Schwarztorf. Es war Schwerstarbeit, in den Kuhlen den Torf in Soden abzustechen und aus dem Moorloch zu wuchten. Die mit Wasser getränkten Soden wurden aufgestapelt und konnten so im Wind trocknen. Im Frühsommer wurden dann die Torfsoden in Karren nach Hause transportiert. Mit über 1000 Torfsoden konnte der Winter überdauert werden. Der Torf diente zum Heizen und zum Kochen, Aber die schwarz-braunen Klumpen schwelen mehr als dass sie brennen und so verwandelten sich die alten Moorkaten eher in Räucherkammern. Aber der Torfabbau der Dorfbewohner hatte nicht die dramatischen Auswirkungen auf das Moor wie die Entwässerung, der Tiefpflug oder der maschinelle Torfabbau. So blieben bei dem Handabbau immer große Moorflächen unberührt.

Die historischen Aufnahmen oben stammen von der Infotafel im Emsdettener Venn

Im Jahr 1935 konnte man entsprechend den alten Aufzeichnung noch 20 balzende Birkhähne im Emsdettener Venn beobachten. Das ist leider schon lange Geschichte. Um die weitere Moorzerstörung zu verhindern, wurde am 12.05.1941 das Emsdettener Venn als erstes Naturschutzgebiet im Kreis Steinfurt unter Schutz gestellt. Es ist heute eine mühevolle Arbeit die Flächen wieder zu vernässen und von Waldbewuchs frei zu halten. Aber Birkhühner sind für immer verschwunden. Auch die Kreuzotter galt seit Ende der 70er Jahre im Emsdettener Venn als ausgestorben. Heute ist man stolz, dass die Wiederansiedlungsbemühungen offenbar erfolgreich waren.

„Ihr müsst leise sein und eher schleichen als gehen, wenn ihr Schlangen sehen wollt“, hat uns Freund Peter, unser Schlangenexperte, auf den Weg gegeben. Also sitzen wir lange an den alten, schon halb verlandeten Torfstichen und warten auf Schlangenbesuch. Nur ein Teichfrosch hüpft zwischen den Algen und Moosen herum. Es wäre ein guter Leckerbissen für die Schlangen.

„Wir haben sie gesehen. Manchmal sonnen sie sich auf den warmen Sandwegen“, meint ein NABU Mitarbeiter, den wir befragen. Aber wir können nur aus der Erinnerung schöpfen: Kreuzottern haben wir in Norddeutschlands Mooren und auf den Ostseeschären beobachtet. Da sind sie noch häufig.

Die Wege um das Moor sind meist schnurgerade, typisch für alte Wirtschaftswege zum Abtransport des getrockneten Torfs ins nächste Dorf. Wieder gibt es am südlichen Randweg einen kleinen Aussichtspunkt. Unser Blick geht über die Feuchtwiesen: Ein Rehbock knabbert an den saftigen Kräutern und ein Feldhase hoppelt vorbei. Wenn nur die Wiese feuchter wäre, gäbe es sicher viel mehr zu beobachten. Dunkle Wolken ziehen auf und verwandeln den Blick in Richtung Moor in eine besondere Stimmung. Vor der Wolkenkulisse steht eine Reihe von Kopfweiden, leider zu weit entfernt, um einen Steinkauz zu entdecken, der in den hohlen Bäumen sein zu Hause haben soll. Die Weiden sind urige Baumgestalten, denn durch das Abschneiden der dünnen Äste bilden sich dicke Köpfe am Ende. In den kurzen Baumstämmen, aus denen dann wieder neue Äste wachsen, bilden sich in den Astlöchern Höhlen und Halbhöhlen. Es sind viele Vogelarten, aber auch Fledermäuse und Baummarder zu finden, aber wohl selten zu sehen.

Was wir heute eher als nutzloses Zweig- und Astwerk ansehen, lieferte über Jahrhunderte eine wesentliche Wirtschaftsgrundlage der Emsdettener Bevölkerung. „Die Weidenzweige haben die Emsdettener reicht gemacht“, meint die Museumsführerin im Wannenmacher Museum Emsdetten und erläutert uns das Handwerk des Wannenmachers. Bereits im 11 Jahrhundert wurden vermutlich die Weidenzweige verarbeitet. Aber nachweislich im 13 Jahrhundert war es ein Pastor, der die Wannenmacherei in Emsdetten einführte. Der Fürstbischof von Münster verordnete dann, dass nur Emsdettener Wannen machen durften. Diese wurden aus gespaltenem Weidenholz und dünnen Weidenästen zu großen Wannen geflochten. Sie dienten über Jahrhunderte zum Kornreinigen, bevor die Dreschmaschine erfunden wurde. 25000 bis 30.000 Wannen wurden in Emsdetten produziert. Etwa die Hälfte der Emsdettener waren mit der Wannenmacherei beschäftigt.

All das erfahren wir von der netten Museumsführerin, natürlich im norddeutschen Tonfall und das erinnert uns immer wieder an unsere alte Heimat.

Über Emsdetten zu berichten, ohne die Geschichte und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt als Leinenweberstadt zu erwähnen, wäre sicher nicht richtig. Aber das August-Holländer-Museum, das die Geschichte Emsdettens vom agrarisch-handwerklich geprägten Dorf der Weber zur Industriestadt aufzeigt, ist zu unserem Besuch wegen Umbau geschlossen. Wir müssen wiederkommen

So bleibt uns wieder Zeit für das Moor, schließlich haben wir noch nicht alle Geheimnisse erkundet.

Der schmale Pfad mit den Bohlenbrettern und dem weiten Blick über die offene Moorlandschaft ist unsere Lieblingsstelle geworden. Der nasse Torfboden federt leicht unter unseren Schritten und die Wasserflächen der vollgelaufenen alten Torfstiche blinken und wirken wie Mooraugen. Ein Graureiher hockt am Rand und blickt traurig auf das Wasser. Fische gibt es hier nicht, denn der pH-Wert des Wassers liegt bei 3,0 bis 4,8. „Da hätten bestenfalls saure Heringe aus der Dosen eine Chance“. (Quelle www. emsdettender-venn.de) So muss der Graureiher als „Götterbote“ hungrig weiterfliegen, um auf den Feuchtwiesen Nahrung zu finden.

Langsam zieht die Dämmerung auf und wieder verwandeln ein paar dunkle Wolken das Moor in eine Welt, die für Gruselgeschichten und Schauermärchen wie geschaffen ist. Kein Wunder also, dass man unweigerlich an Irrlichter, Geister und Untote denkt oder an die umherschwirrenden Seelen versunkener Menschen im Moor. 1794 fand man beim Torfstechen eine Moorleiche bei Ahlintel. Es war die Leiche eines im Moor gut konservierten Mannes aus der Jungsteinzeit, also mindestens 5000 Jahre alt. In Europa sind etwa 1000 menschliche Moorleichen dokumentiert. Für viele gab es ein trauriges Ende, denn in früheren Zeiten gab es hierfür noch kein wissenschaftliches Interesse. Also wurden die Leichen zermahlen und als Medikament Mumia verkauft. Sie dienten so als Ersatz für die teuren ägyptischen Mumien, die lange zermahlen und als Arzneidroge Mumia Vera im Handel waren, zuletzt von einem Darmstädter Pharmaunternehmen bis 1924. Noch heute knüpft das organisch-mineralische Nahrungsergänzungsmittel Mumijo an diese alten Traditionen an, natürlich nicht mit zermahlenen Mumien.

Aber all diese Vorstellungen lassen uns doch etwas erschaudern und in diese Welt der Geister, Mumien und Giftschlangen passen auch die fleischfressenden Pflanzen des Moores. Es dauert eine Zeit, bis wir sie im Venn entdeckt haben. Fleischfressende Pflanzen, das klingt wieder einmal animalisch und gefährlich. Dabei ist der Pflanzenname eher niedlich: Sonnentau heißt die kleine Pflanze, die an feuchten Stellen im Moor wächst. Hier im Emsdetten am Moor finden wir das Mittlere Sonnentau, in anderen Mooren haben wir auch das Rundblättrige und das Langblättrige Sonnentau gefunden. Die kleinen Pflanzen des Mittleren Sonnentaus sehen erst bei genauem Hinsehen gefährlich aus. Nicht für uns, aber für kleine Fliegen, Mücken oder Spinnen. Die kleinen Blätter sind als Fangblätter mit Tentakeln und Klebedrüsen besetzt, die süße Klebsäfte absondern und so die Beute anlocken. Himmelstau werden die Pflanzen auch genannt, sicher wegen der kleinen funkelnden Tröpfchen an den Pflanzenblättern. Die Aufnahme von Stickstoff durch die Insektenfänge ermöglichen so das Gedeihen auf nährstoffarmen Moorböden. Aus der kleinen nur wenige Zentimeter großen Blattrosette ragt der lange Blütenstengel heraus, aber bei dieser Pflanze sind nicht die Blüten interessant, sondern die fleischfressenden Blätter. Also doch ein fleischfressendes Ungeheuer im Moor!

Ich bleibe bei meinen eher romantischen Vorstellungen, Moorerinnerungen und Träumen von duftendem Sumpfporst, sanft wiegenden Wollgrasbüscheln, Heideblüten und Himmelstau.