Deutschland – Münsterland Twitcher oder Beobachter in den Rieselfeldern Münster

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Twitcher oder Beobachter – das ist hier die Frage

Unterwegs in den Rieselfeldern Münster

In der Broschüre „Aus der Vogelperspektive“ lese ich, dass Vögel die beliebtesten Tiere der Welt sind – jedenfalls, wenn es nach der Zahl ihrer Fans geht. In Deutschland schätzt man, dass etwa 250.000 Leute zur Gruppe der Birdwatcher zählen. Twitchen nennt man die sportliche Version der Vogelbeobachtung also das Beobachten und Auflisten möglichst vieler Vogelarten. Die weltweit erfolgreichste Twitcherin war Phoebe Snetsinger aus Minnesota, die zwischen 1965 bis zu ihrem Tod 1999 mit rund 8400 Vogelarten einen Eintrag ins Guinnes Buch der Rekorde bekam. 2017 hielt der Engländer Jonathan Hornbuckle (1943 – 2018) mit rund 9600 Vogelarten den Rekord. Die Artenvielfalt der Vögel wird weltweit auf rund 10.000 Arten geschätzt, wovon ca. 300 Arten in Deutschland beobachtet werden können und rund 248 Arten auch hier brüten. All diese Zahlen stammen aus dem Internet und erheben keinen Anspruch auf die Richtigkeit, aber die Größenordnungen sind erkennbar.

Ein schnelles Nachzählen zeigt mir: Von den 248 verschiedenen Vogelarten in Deutschland habe ich bisher 163 Vogelarten beobachtet, viele davon habe ich auch fotografiert. Da bin ich wohl gerade ein Mittelfeld-Birdi!

Und jetzt sind wir seit einigen Tagen in den Rieselfeldern bei Münster unterwegs – ein Vogelparadies ersten Ranges und mit 130 gezählten Vogelarten ein ausgezeichnetes Gebiet für Birdwatcher, auch wenn es keine Twitcher sind. (Literaturhinweis: Antje Zimmermann, Schönes NRW – Die schönsten Wildtierbeobachtungen in NRW)

Hier können wir feststellen, dass sich ein Gebiet auch manchmal zum Besseren verändert, denn in den Rieselfeldern wurde von 1901 bis 1975 das in Münster anfallende Abwasser verrieselt. 1975 übernahm dann die Kläranlage diese Aufgabe und durch das Engagement der Naturschützer entwickelte sich das mosaikartige Feuchtgebiet aus Flachwasserbereichen, Schlammbänken, nassem Grünland und großen Schilfflächen zu einem Vogelschutzgebiet von internationaler Bedeutung. Und das ist kein Wunder, denn der Tisch ist für Schreit- und Watvögel, Enten und Gänse reichlich gedeckt: Abertausende von Schlammwürmern, Insektenlarven und Schnecken bilden Nahrung im Überfluss und die großen Wasserflächen und Schilfbereiche bieten Schutz- und ungestörte Brutgebiete.

Es ist Mitte Juni, als wir im Gebiet der Rieselfelder unterwegs sind, ganz im Sinne der Twitcher auf der Suche nach für uns neuen Arten, aber auch auf der Suche nach Erholung und Naturerlebnissen. Das Kreischen der Lachmöwen auf und über den Wasserflächen und das durchdringende Fiepen der bettelnden Jungvögel an den Uferbereichen ist schon von weitem zu hören. Wir aber fahren erst einmal zum Heidekrug , um dort die Räder für unsere Erkundungstour klar zu machen. Im Außenbereich des Restaurants ist viel los. Oben auf dem Dach lassen sich die Weißstörche davon nicht stören. Immer wieder landen die Altvögel und füttern ihre zwei Jungen, die heißhungrig alles herunterschlingen. Der Altvogel legt seinen Kopf zurück und klappert mit dem Schnabel, dann streicht er ab und seine großen Schwingen tragen ihn zum nächsten Flachwasserbereich, wo wir ihn später wieder sehen.

Die Zahl der Weißstörche wird weltweit auf 166.000 Brutpaare geschätzt. Während die erste flächendeckende Zählung 1934 auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik noch 9.000 Paare ergab, waren es 1988 nur noch 2.949 Paare. Es ist sicher ein Verdienst des Naturschutzes, dass sich heute der Brutbestand wieder erholt hat, 2017 zählte man bundesweit insgesamt 6.756 Brutpaare (Quelle: Land Brandenburg, Ministerium für Landwirtschaft und Klimaschutz; Brandenburg aus der Vogelperspektive; 2019). Im Gebiet der Rieselfelder gibt es derzeit 4 Brutpaare und weitere 4 Storchenpaare in den angrenzenden Bereichen. (Info aus Google vom 08.05.2020)

Die Infostation und ein kleiner Teichbereich bilden einen schönen Auftakt für Erkundungstouren. Im Teich werden die jungen Bläßhühner von den Altvögeln ausgeführt und gefüttert. Mit ihren noch kahlen orangeroten Köpfen sehen die Dunenjungen noch nicht so vornehm aus wie die schieferschwarzen Altvögel mit ihren weißen Stirnschilden.

In der überhängenden Weide lärmt und trällert ein Zaunkönig. Es ist erstaunlich, was für eine gewaltige Stimme dieser kleine Vogel hat. Er ist noch ziemlich häufig, aber nur selten gut zu sehen, da er in niedriger Deckung, in Gebüschen und Dickichten zu Hause ist. Wir scheinen ihn zu stören, denn er schmettert uns seinen Gesang entgegen als wollte er kundtuen dass es hier sein Revier ist. So starten wir lieber unsere Rieselfelder-Fahrradrunde.

Weit kommen wir allerdings nicht, denn als wir in eine ruhigere Strecke einbiegen, schlängelt sich gerade eine Ringelnatter über den Weg. Aber sie muss vorsichtig sein, hier gibt es viele Fressfeinde für sie. Da sind wir dagegen harmlos, ich will nur ein schönes Foto.

Bald liegt der Große Stauteich vor uns. Wir stellen die Räder ab und gehen vorsichtig in die Beobachtungshütte. Vor uns erstreckt sich eine große Flachwasserfläche, die voller Vögel ist. Die schrillen Schreie der Lachmöwen übertönen alles und schaffen eine besondere Lärmkulisse. Aber es sind auch Stock-, Reiher-, Tafel-, Löffel- und die kleinen Krickenten auf dem Wasser und an den Rändern. Graugänse, Brandgänse und Höckerschwäne heben sich durch ihre Größe ab und die Schilfrohrsänger rufen mit wohltönender Stimme, Gezwitscher und langen Trällern aus dem Schilf herüber.

Stunden können wir hier sitzen und das Konzert der Vögel genießen. Aber es gibt viele solcher Situationen und Beobachtungsmöglichkeiten mit kleinen Ausblicken auf die Wasser- und Schlammflächen. Zum Glück haben wir ein paar Tage Zeit und können so in Ruhe das Naturerlebnis genießen.

So entdecken wir inmitten einer Wasserfläche auf einer kleinen Insel zusammen mit Enten, Gänsen und Kormoranen auch fünf Löffler, das ist eine Besonderheit. Die Löffler gehören zu den Ibissen. Mit ihren langen schwarzen spatelförmigen Schnäbeln sind die weißen Vögel deutlich erkennbar und von Reihern leicht zu unterscheiden. Da haben wir wieder einen Strich in unserer Arten-Sammelliste.

Am nächsten Tag sind wir wieder auf Birdi-Entdeckungstour: Auf dem vor uns liegenden See können wir von der Beobachtungshütte (Nr. 21) aus merkwürdige Gänse beobachten. Es ist ein Pärchen Rostgänse, und dass sie inzwischen hier heimisch geworden sind, erkennen wir auch gleich: Sie bewachen ihre Jungen, die noch als schwarzweiße Dunenjunge um sie herum schwimmen. Diese Gänseart fällt durch das rostbraune Gefieder mit dem hellen Kopf sofort auf und ist noch deutlich markanter als die inzwischen häufig vorkommenden Nilgänse. Der schwarze Halsring kennzeichnet das Männchen, während das Weibchen einen helleren Kopf hat.

Ein Ornithologe neben uns sucht mit dem Fernglas das gegenüber liegende Ufergestrüpp ab – es wurde hier ein Nachtreiher gesehen, aber heute bleibt der scheue Vogel verschwunden. Allerdings entdeckt Anke mit dem Fernglas eine Bartmeise vor der Schilfkulisse entlang fliegen. Diese ist jedoch im grünen Dickicht verschwunden, ehe ich sie entdecke. Zu schön wäre es, wenn wir noch ein Blaukehlchen sehen würden. Mit rund 50 Brutpaaren hat man hier die für NRW beste Chance, diesen scheuen und seltenen Singvogel mit der blauen Kehle zu sehen. „Nachtigall des Nordens“ wird das Blaukehlchen wegen des besonders melodiösen Gesanges genannt – zu gerne würde ich diesen Vogel hören und zu Gesicht bekommen, die tollen Fotos in den Info-Broschüren schwirren mir im Kopf herum. Rotkehlchen brüten in den Weiden am Weg in der Nähe der Biologischen Station, Schwarz- und Braunkehlchen haben wir an anderen Orten schon gesehen, und jetzt fehlt uns eben noch das Blaukehlchen. Aber bei Naturbeobachtungen lässt sich nichts erzwingen, und so geht es weiter, immer mit festem Griff am Fernglas.

Der nächste Erkundungstag bringt neue Entdeckungen: Im Beobachtungsstand sind wir plötzlich wie elektrisiert, denn ganz dicht vor uns führt eine Wasserralle ihre zwei schwarzen Dunenjungen aus. Die Rallen sind besonders scheue Vögel, es sind sehr heimliche Sumpfbewohner, die eher zu hören als zu sehen sind. Jetzt haben wir sie direkt vor uns. Immer wieder verschwinden die dicklichen kleinen Körper im Schilf und hohem Gras, picken im Uferschlamm herum, der Altvogel mit langem roten Schnabel.

Rallen habe ich in besonderer Erinnerung, denn auch der Wachtelkönig gehört in diese Familie und dieser seltene Vogel hatte 1986 zwei Wettbewerbserfolge und eine langjährige  Planung für mehr als 3.500 Wohnungen im Hamburg-Neugraben zu Fall gebracht, weil man auf dem dortigen Plangelände diesen Vogel vermutete. Unter dem Namen Elbmosaik hat man offenbar mit der Bebauung dieses Bereiches um 2010 begonnen. Bis heute hat keiner hier einen Wachtelkönig zu Gesicht bekommen Damals waren wir geschockt – heute freuen wir uns über unser schönes Rallen-Erlebnis und verdauen es im Heidekrug bei Erdbeer-Altbierbowle mit Blick auf die über uns fütternden Storch-Eltern.

Inzwischen haben wir nicht nur die Rieselfelder, sondern auch die Umgebung etwas genauer kennen gelernt. Münster ist zu groß und zu vielseitig , um diese Stadt an einem Tag „abzuhaken“, auch wenn ich mich gerne bei der netten Mitarbeiterin im Touristik-Büro für die Vermittlung der guten Ferienwohnung bedankt hätte.

Aber auch unser Übernachtungsort Telgte entpuppt sich als sehenswert. Die 20.000 Einwohner zählende Stadt ist bekannt als Wallfahrtsort, der aber auch weitere Besonderheiten aufweist: Der Nobelpreisträger Günter Grass hat Telgte in seiner Erzählung „Das Treffen in Telgte“ literarisch verewigt. Schmale Gassen mit roten Backsteinhäusern, nur manchmal wurde ein weißer Putzbau dazwischen errichtet. Rote und braune Dächer schaffen eine ruhige Dachlandschaft und die Werbung ist zurückhaltend wie durch eine Werbesatzung geregelt. Dadurch werden die mittelalterlichen Strukturen nicht gestört.

Im Reiseführer steht zu Telgte, dass jährlich 150.000 Pilgerinnen und Pilger in die Stadt kommen. Ein Gnadenbild der trauernden Maria, eine um 1370 geschaffene Pietà, ist der Gegenstand der Verehrung.

Auch die traditionelle Kutschenwallfahrt mit über 100 fantasievoll geschmückten Pferdegespannen wird als sehr großartig beschrieben. Kunst und Kultur haben in der kleinen Stadt große Tradition. So gibt es an fast jeder Ecke Straßenkunst von Prof. Jörg Heydemann, Bernd Kleinhans, Hans Dinnendahl und Heinz-Gerd Bücker. Auffällig sind die lebensgroßen Menschenfiguren, welche die Altstadt zieren. Auf dem Marktplatz steht ein rotes Sofa mit sieben Münsterländer „Schönheiten“ – „Alltagsmenschen“ von Christel Lechner. Nur eine hat sich dekorativ daneben gestellt, natürlich in rot – und mit Schirm, denn es hat zu regnen begonnen. Das ist die richtige Zeit für das Kornbrennereimuseum!

Für uns wird es langsam Zeit, unsere Touren hier im Münsterland zu beenden. Wir drehen noch eine Fahrradrunde in den Rieselfeldern, genießen das Konzert der Teichfrösche, das der Lachmöwen und das Zwitschern der Mönchsgrasmücke, die plötzlich über uns in den Zweigen sitzt. Aber noch erstaunter sind wir, als unversehens keine 20 m vor unserem Beobachtungsstand ein Rehbock auftaucht und erst beim Klicken des Fotoapparates mit großen Sätzen im Schilfdickicht verschwindet.

„Jeden Tag eine neue Überraschung“, meint Anke, da lohnt es, wieder zu kommen, und wir werden wieder kommen! Auf der Jagd nach dem Blaukehlchen, der „Nachtigall des Nordens“.