Wald-Geschichten

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Bayerischer Wald

Waren es nicht schon die Märchen von Schneewittchen oder Hänsel und Gretel, die in frühesten Jahren den Wald in meine Kinderwelt brachte? Der Wald mit wilden, abenteuerlichen Wegen und Pfaden, dunklen und geheimnisvollen, hohen Bäumen mit rauschenden Wipfeln. Der Wald, in dem man sich verirrte, bei Zwergen oder im Hexenhaus landete oder so wie bei Rotkäppchen in den Fängen des Wolfes enden konnte.

In den Jugendjahren wandelte sich das Bild: Es kamen die heimlichen Waldlichtungen, die melodischen Rufe der Singvögel, die Klänge der Tierwelt ins Bewusstsein. Noch ein bisschen später nahm mich die Romantik gefangen. War der Träumer in mir erwacht? Oder war es die Liebe zur Natur?

Die Romantik des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis ins späte 19. Jahrhundert ist auch in der heutigen Zeit noch präsent. Zu oft werde ich von Freunden als „Naturromantiker“ tituliert, nur weil mich die Natur fasziniert oder weil ich es liebe, mich bei den Klängen des „Freischütz“ in die tiefen Schluchten des Elbsandsteingebirges hinein zu träumen?

Bei all diesen Märchen, Erzählungen, Klängen und Gemälden steht doch die Liebe zur Natur, die Begegnungen mit den Pflanzen, den Bäumen und den Tieren im Vordergrund. Man kann das natürlich auch modern und sachlich kühl ausdrücken: Die Artenvielfalt oder Biodiversität. Ob uns diese Begriffe der Faszination des Waldes näher bringen? Ich bleibe lieber bei der Romantik des Waldes. Wohl wissend, dass es sich hier um ein so komplexes Biotop handelt, dass ich es als Nichtfachmann kaum in all seinen Ausprägungen erfassen kann.

Immer wieder waren es Wälder, die uns auf unseren Touren in Deutschland fasziniert haben. Es ist biologisch nachweisbar: Deutschland ist ein Waldland, das heißt, die potentielle natürliche Vegetation unserer Heimat ist der Wald und den gibt es in all seinen Ausprägungen hier zu erleben. Rund ein Drittel der Fläche Deutschlands ist mit Wald bedeckt. So waren wir in den großen Waldgebieten des Harzes, des Pfälzer Waldes und des Thüringer Waldes unterwegs, haben das Elbsandsteingebirge durchstreift und sind vielfach in den Wäldern der Eifel gewandert. Da sind aber auch die Auwälder an Elbe und Rhein – die Aufzählung ist sicher nicht vollständig, und uns fehlen noch so viele Walderlebnisse in verschiedenen Regionen Deutschlands. Immerhin gibt es 18 unterschiedliche Waldlebensraumtypen in Deutschland.

So kann es hier nur der Versuch sein, mit den Wald-Geschichten dem Mythos Wald ein wenig auf die Spur zu kommen. Und so ergab es sich bei unserer Tour in den Bayerischen Wald, dass wir diesem Mythos ein Stückchen näher kamen.

Aber diese Tour hat einen ganz anderen Anfang: Auf der Suche nach neuen Erlebnissen in Deutschland war ich bei der Frage gelandet: Gibt es noch die größten Waldhühner, die Auerhühner, in Deutschland zu sehen? Wo leben sie und wo können wir sie noch erleben?

Die großen Waldhühner, wie das Auerwild, sind in den meisten Regionen Deutschlands ausgestorben. In manchen Nationalparks wurden sie wieder ausgesetzt und man hofft auf eine Wiederansiedlung. Meine Recherchen führten mich zum Thüringer Wald, und da wir die Region um Saalfeld und Rudolstadt seit vielen Jahren kennen, war ich erfreut, hier eine Auerhahn-Aufzuchtstation im Internet zu finden. Die nette Forstbeamtin konnte mir jedoch in dieser Hinsicht nicht weiter helfen: Auerwild, das aufgezogen und ausgewildert werden soll, darf sich nicht an Menschen gewöhnen. So ist die Station öffentlich nicht zugänglich – wieder war der Auerhahn-Traum in weite Ferne gerückt. Aber die hilfsbereite Biologin hatte einen Tipp für uns bereit: Die großen Freigehege im Nationalpark Bayerischer Wald.

Es verging nicht viel Zeit, da hatten wir eine Ferienwohnung am Nationalpark gemietet, fuhren über die Donau an Regensburg und Passau vorbei nach Neuschönau am Tor in den Bayerischen Nationalpark. Dass wir von nun an in der „Lerchen“-Straße wohnen konnten, war wohl ein gutes Omen, denn Vögel wollten wir ja beobachten, wenn auch nicht die kleinen Lerchen.

Dafür wollen wir aber jede Menge anderer Vögel, Säugetiere und weitere Arten des Waldes erleben. In Neuschönau beginnt unsere Erkundung des Bayerischen Nationalparks. Auch wenn derartige Schutzgebiete voller Leben sind, haben sie für uns dennoch große Nachteile; Man darf keine Pilze und Früchte sammeln, muss zum Schutz der Tiere immer auf den Wegen bleiben und sieht trotz aller Natur die Wildtiere nur selten, denn die haben natürlich hier ihre besonderen Schutz- und Ruhezonen, die nicht betreten werden dürfen. Dieses soll aber keine Kritik sein, sondern eher die Einsicht in das notwendige Verhalten der Besucher derartiger schutzwürdiger Bereiche. So stammen die meisten der in diesem Artikel gezeigten Aufnahmen nicht aus der ganz freien Natur, sondern aus den großen Freigehegen des Nationalparks oder anderer Regionen.

Die für uns bemerkenswerte Entwicklung dieser Tour ist dadurch gekennzeichnet, dass wir immer mehr in den Mythos Wald eintauchen und hier etwas anderes erleben, als nur auf der Lauer nach Tiererlebnissen zu sein oder wie ein Voyeurist in die Kinderstube von Füchsen und Dachsen, Hirschen und Wildschweinen einzudringen.

Der Mythos des Bayerischen Waldes beginnt mit dem Sterben des Waldes. Apokalyptische Änderungen in den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts schienen das Ende des Waldes zu besiegeln. Statt des lebenserhaltenden Regenwassers fiel saurer Niederschlag auf die Erde mit ihren Pflanzen und Lebewesen. Die zunehmende Industrialisierung, immer höhere Schornsteine und riesige Mengen Schwefeldioxid und Stickoxide führten zu einer derartigen Verschmutzung der Luft, dass die Niederschläge als saurer Regen zurück auf die Erde kamen und Seen und Wälder schädigten. Die so geschwächten Bäume waren anfälliger für Pilzbefall, Insektenfraß, Trockenheit und Windbruch der Giftcocktail hinterließ in den Wäldern eine Spur des Grauens, denn zurück blieb meist nur eine bizarre Welt aus toten in den Himmel ragenden Baumskeletten. Der Wald wurde auf großen Flächen zum Friedhof der Fichten.

Die Waldidylle hatte sich in eine teuflische Szenerie verwandelt und die wirtschaftliche Grundlage des Waldes war auf Jahrzehnte zerstört. Die Fichten, die in großen Monokulturen im neunzehnten Jahrhundert durch die Preußen angepflanzt wurden, zeigen jetzt ihre ökologischen Probleme. Zwar lieferte der „Preußenbaum“ durch seinen schnellen und geraden Wuchs ein wirtschaftlich hervorragendes Holz und wurde so zum „Brotbaum“ der Holzwirtschaft. Insbesondere die Monokulturen der großen Fichtenbestände waren jedoch anfällig und lieferten Zeugnis ab, dass hier einiges im Argen lag. Aufgrund in der beschriebenen Vergangenheit und ihrer Eigenschaften zählt die Fichte in Deutschland mit 25,4 % zu den am meisten vorkommenden Bäumen der rund 76 verschiedenen Baumarten in unseren Wäldern. Eine heimische Baumart ist die Fichte in vielen Teilen Deutschlands jedoch nicht, denn sie benötigt als Flachwurzler gut mit Wasser versorgte Standorte und ist bei Trockenheit krankheitsanfällig. Dieses Problem zeigte sich insbesondere in den vergangenen Jahren. Durch Klimawandel und Trockenheit geschwächt hatte der Borkenkäfer ein leichtes Spiel und 50% des Waldes wurden durch die Trockenheit geschädigt. Würde man aus dem gesamten Schadholz der Jahre 2018 bis 2020 einen Steg von 1m Breite und 45 cm Dicke bauen, so würde er von der Erde bis zum Mond reichen. (aus: Dein SPIEGEL, 01/2022).

Wie kann es weitergehen mit dem Wald? Das war die große Frage und nach den Schicksalsjahren 2018 bis 2020 ist sie es auch heute. „Möglichst schnell alles abräumen und wieder aufforsten“, sagen die einen. „Die Natur Natur sein lassen und nicht eingreifen“, sagen die anderen. In weiten Teilen der Eifel erleben wir derzeit die eine Strategie: Große Kahlschläge, Holz wird in Mengen abgeräumt. Die Aufforstungen der Gebiete sind umzäunt um junge Triebe vor Verbiss zu schützen. Nur im Nationalpark und an wenigen anderen Stellen beginnt ein Umdenken.

Die andere Strategie „Natur Natur sein lassen“ erleben wir im Naturpark Bayerischer Wald.

Es ist die „Hirschgeweih-Tour“, auf der wir unterwegs sind, und ich notiere ins Tagebuch:

„Immer wieder geht es durch Waldgebiete, die im Umbruch sind: Vom Fichtenforst zum toten Wald, durch Trockenheit und Borkenkäfer geschädigt entsteht ein Baumleichenchaos, das alles andere als Naturwaldidylle ausstrahlt. Aber inmitten dieses Horrorbildes entwickelt sich ein wieder aufblühender Mischwald mit Buchen, Birken, Eschen und anderen Laubbäumen sowie einigen Nadelbäumen. Ein chaotisches, teils skurriles und wildes Nebeneinander von Leben und Tod. Ein Spiel der Farben von dunkelgrünen Fichten und bunten Laubbäumen im Herbstkleid, von grauen Baumstümpfen und großen Baumleichen, deren kahle Äste wie Walgerippe aufragen und oft dicht übereinander liegen, kreuz und quer und undurchdringlich. Dazu gedeihen am Boden Sträucher, Heidelbeergestrüpp und darunter hellgrünes Torfmoos. Dazwischen leuchtet wie eine goldene Verheißung immer wieder das Herbstlaub junger Buchen. Wasserlöcher und Feuchtgebiete zeigen an, dass es nasse Bereiche sind – wir sind fasziniert von so viel ungebändigter Natur, die hier im ständigen Wandel erlebbar ist.“

Der Wald ähnelt einer ständigen Baustelle. Aber wir haben den Eindruck, dass hier Vielfalt erlebbar wird: Von den kleinen Lebewesen, den Schnecken, Käfern, Spinnen und Schmetterlingen bis zu den größeren Tieren, den Mardern, Füchsen, Dachsen, Wildkatzen oder gar den Luchsen und Wölfen. Früher waren es sogar die Braunbären, die hier die Wälder durchstreiften. Aber 1835 wurde in Bayern der letzte freilebende Bär erschossen. Nur wenige Male haben Braunbären versucht, ihre alte Heimat zurück zu erobern. Für den berühmt gewordenen „Bruno“, der vermutlich aus dem italienischen Trentino über die Grenze nach Bayern kam, endete der Versuch tödlich. Er wurde 2006 als „Problembär“ erschossen.

Luchse und Wölfe durchstreifen nur sehr selten diese Gebiete. So können wir ohne Furcht vor wilden und gefährlichen Tieren unsere nächste Tour durchführen.

Ein kleiner Bach hat sich tief in die Felsen eingegraben und rauscht in vielen Kaskaden durch eine enge Schlucht – die Steinklamm. Etwa 160 Höhenmeter fließt er steil abwärts. Der Pfad führt über Felsen, Baumwurzeln und Stufen immer tiefer ins Tal durch eine romantisch wilde Klamm. Beeindruckende Felsformationen, rauschendes Wildwasser und ein steiler Pfad, umgestürzte Bäume liegen quer über dem Wasser – wieder ist es das wilde Durcheinander ungezähmter Natur, das uns fasziniert. Am Ende der Klamm führt eine Fußgängerbrücke über den Bach. Dann geht es weiter auf einem leicht ansteigenden Waldweg bis zu einem kleinen Stausee. Eine Bank in der Sonne ist für uns der richtige Platz für ein Mittagspicknick. Bald versammeln sich 15 Stockenten um uns. Die Idylle ist hier perfekt. Aber ist es auch für die Natur perfekt? Der Stausee ist künstlich angelegt, die Ufer alles andere als naturnah, alles scheint gesetzkonform, ordentlich und sauber. Ein kleiner Bagger steht am Wegesrand, es stehen Erneuerungsarbeiten an, damit alles so wie es geplant wurde erhalten bleibt.

Wir durchstreifen lieber die ungeplanten Gebiete z. B. entlang der kleinen Bachläufe auf Wegen, die plötzlich unpassierbar erscheinen. Ein besonderer Baumeister hat hier gewütet: Wir sind im Reich einer Biberkolonie. Erst 2004 wurde die erste Biberkolonie in Bayern nachgewiesen, bis zum Jahr 2019 waren es 27 aktive Kolonien im Bayerischen Wald. „Kaum ein Bach ohne Biber“, meint ein Nationalpark-Ranger, dem ich später unsere Entdeckung berichte.

Vor uns öffnet sich eine amphibische Waldlandschaft, die sicher im Sommer voller Leben ist. Umgestürzte Bäume schaffen wieder den Eindruck einer Großbaustelle. Dann entdecken wir die Baumaßnahmen: Eine große Biberburg und ein Staudamm aus Holzknüppeln, Geäst und Schlamm. Am Rande des Sumpfgebietes, wo die Bäume noch im Trockenen stehen, entdecken wir auch die typisch abgenagten Baumstümpfe, die wie dicke Bleistiftspitzen in den Himmel ragen. Nagespuren an den Bäumen weisen auf die Aktivitäten der Biber hin. Etwa 10 Bäume werden von einem Biber im Jahr gefällt, aber dadurch wird auch Platz geschaffen für neue Bäume und für Licht und Sonne im Wald. Es entstehen lichte Waldgebiete und artenreiche Räume.

Uns gefällt die neue Hausordnung, die wir im Bayerischen Wald erleben: Natur Natur sein lassen. Diese natürliche Ordnung, die oberflächlich gesehen ziemlich chaotisch wirkt, scheint für mich nachhaltiger und umweltbewusster zu sein, als die unter forstwirtschaftlichen Gesichtspunkten entwickelte Waldkultur. Der Mythos Wald hat uns dort gefangen genommen, wo der natürliche Waldkreislauf erlebbar wurde.