Unterwegs – Begegnungen mit Völkern zwischen den Welten

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Samen / Seenomaden / Dayak / Inuit

Es war wieder einmal eine intensive Diskussion mit Nils. Sie ging über einen Vortrag, den er gesehen hatte: Der Naturfotograf und Umweltaktivist Markus Mauthe referierte mit fantastischen Bildern, trat gegen die Abholzung des brasilianischen Regenwaldes und für das Leben der dort lebenden indigenen Völker ein. Wir gehen fast immer davon aus, dass die indigenen Völker von uns vieles lernen müssen, aber können und sollten nicht auch wir bereit sein, von ihnen zu lernen?

In Kooperation mit Greenpeace fordert Markus Mauthe zur Arbeit gegen die Vernichtung des Regenwaldes auf, gegen die unwiederbringliche Zerstörung der Grünen Lunge der Erde. Er ruft auf zum Handeln zu Gunsten der dort lebenden Menschen, Tiere und Pflanzen – für den Erhalt unser aller Umwelt.

Der Regenwald, der uns bei unserer Reise durch Sulawesi so beeindruckt hatte, ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Aber es waren auch die Begegnungen mit den dort lebenden Menschen, ihren Mythen und Bräuchen, die bleibende Eindrücke hinterlassen haben.

Bei den Nachforschungen über diese indigenen Völker Indonesiens kam mir in den Sinn, nachzuforschen, was der Begriff „indigen“ überhaupt bedeutet. Früher wurden die indigenen Völker eines Landes als „Eingeborene“, „Ureinwohner“ oder „Naturvölker“ bezeichnet. Heute bedeutet der Begriff „Indigen“ so viel wie „in ein Land geboren“, was den besonderen Bezug aller indigenen Völker zu ihrer natürlichen Umwelt ausdrücken soll.

Indigene Völker, der Begriff ist von „indigena“, „eingeboren“ abgeleitet oder auch „autochthone“, „ursprüngliche“ Völker sind im Sinne der Definition der UN-Arbeitsgruppe über indigene Bevölkerung von 1982 zumeist an den Rand der Gesellschaft gedrängte Bevölkerungsgruppen, die sich als Nachkommen der Bewohner eines bestimmten räumlichen Gebietes betrachten. – So weit die Google-Definition … und so weit war ich mit meinen Überlegungen und Recherchen zu diesem Thema gekommen.

Wurden die Menschen von uns an den Rand der Gesellschaft, in den Hintergrund oder gar hinter den Horizont unseres Denkens und Handelns gedrängt? Der Film von Markus Mauthe fällt mir ein: „An den Rändern der Welt“, und seine Aufforderung zum Handeln. Ein etwas schlechtes Gewissen blieb bei den Gedanken im Umgang mit den indigenen Völkern, aber dann verschwand alles wieder im Stapel der unerledigten Dinge und in der Rubrik: Du könntest doch einmal …Es gab so viele andere Dinge …

Erst als ich eine Mail von Freund Helmut erhielt, flammte der Gedanke an indigene Völker wieder auf.

„Kein Lebenszeichen von Bruno Manser, aber von HELMUT“, überschrieb er seine Mail. „Dieser Bruno Manser, ein Schweizer Aktivist, hat in den 1980iger Jahren bei den Penan im malaiischen Sarawak (Borneo) auf deren Art und Weise gelebt und sie auch im Widerstand gegen die Holzfällerfirmen unterstützt … ich habe früher meinen Schülern von ihm erzählt.“ Seit 2005 gilt Manser als verschollen.

Nun sind wir weder Ethnologen noch Umweltaktivisten, aber diese Anstöße haben mich berührt und dazu beigetragen, dass ich mich selber gefragt habe, wie unsere Begegnungen mit indigenen Völkern ausgesehen haben.

Haben wir als simple Voyeure den Indigenen, denen wir begegnet sind, Unrecht getan?

War es aus heutiger Sicht überhaupt richtig, zu Ihnen zu reisen, in ihre Gebiete einzudringen, Fotos zu machen und ihre Bräuche abzulichten?

Welche Chance geben wir diesen Völkern zum Überleben in der heutigen Gesellschaft und mit unserem persönlichen Verhalten?

Mir scheint es richtig, diesen Fragen einmal genauer nachzugehen und die eigene Position zu bestimmen. Ich will versuchen, diesen schwierigen Fragen anhand meiner Erinnerungen, Tagebuchaufzeichnungen und Erfahrungen nachzugehen und denke an unsere Reisen in Europa, in der Arktis, in Amerika, in Südostasien und auf Neuseeland.

Begonnen haben für uns die ersten Begegnungen mit Indigenen schon sehr früh in den 70er Jahren. Unsere Reisen nach Skandinavien – Norwegen, Schweden und Finnland – führten uns so weit in den Norden, dass wir dort, ohne es weiter zu hinterfragen, auf das nordskandinavische Volk der Lappen stießen

Lappland, die nördlichsten Regionen Fennoskandinaviens hat so beeindruckende und einzigartige Landschaften, dass diese Gebiete uns immer wieder durch ihre Rauheit und ungezähmte Wildheit in ihren Bann zogen. Die farbige Pracht der Mitternachtssonne verleiht dieser Landschaft eine Schönheit, die kaum ihresgleichen hat.

In Vorbereitung unserer Touren in Norden habe ich damals das Buch meines Lieblings-Schriftstellers Erich Wustmann gelesen: „Wo das Eis die Grenze schuf“. Es war die zweite Auflage von 1955 und so beschrieb Wustmann seine Begegnungen mit den Lappen auch auf eine für uns heute etwas einfache Art und Weise: „Wir fahren durch einsame Waldgebiete und kamen wie so oft in meinem Leben nach Lappland. Uns begrüßten die Mücken und die Lappen, Rentiere und Hunde, die freie Wildmark und die Romantik des Lagerlebens. Hier sagten sich wahrhaftig die Füchse gute Nacht. Karl, der zum ersten Mal nach Lappland kam, umkreiste die erste auftauchende Lappfrau und fotografierte sie von allen Seiten.“

Zu den Fotos schreibt Wustmann: „Hier leben noch die letzten Nomaden Europas. Viele leben bereits in Hütten, denn eine neue Zeit bricht auch für die entlegensten Völker an.

So einfach haben auch wir als gut 20-Jährige es damals gesehen, als wir damals auf unserer Nordland Tour nach Lappland kamen, ins Land der Mitternachtssonne.

Im Juli 1974 waren Anke und ich auf unserer Schweden und Norwegen Reise in Kiruna in Nordschweden unterwegs.

„Dass wir uns hier in Lappland befinden bekommen wir auch zu sehen. Überraschender Weise laufen noch einige Lappen in nahezu vollständiger Tracht in der Stadt herum. Dass es schwedische Lappen sind, kann man an den Mützen mit dem roten Wollbüscheln erkennen. Von den Lappen, die sich selber „sameh“ oder „sabmek“, Sumpfleute nennen, gibt es heute noch 30.000 bis 35.000 Menschen in Lappland. Ihre Herkunft liegt im Dunkeln, ihre Sprache ist mit dem Finnischen verwandt“, schreibe ich in mein Tagebuch leider kam es zu keinen weiteren Begegnungen mit den Lappen oder wohl besser den Samen. Zu verlockend waren für uns die Erlebnisse in der freien Wildmark und die Romantik des Lagerlebens, ganz wie Wustmann es beschreibt, nur mit noch mehr Mücken.

Aber das, was der Schriftsteller so lapidar beschreibt „…eine neue Zeit bricht auch für die entlegensten Völker an“, erscheinen mir aus heutiger Sicht zu kurz gegriffen und ohne die Reflexion auf das eigene Empfinden und die Einstellung diesen Menschen gegenüber.

Wegen einer anderen Landnutzung, der Wasserkraft-Energiegewinnung und der Sicherung vorhandener Rohstoffe wurden den Samen viel zu spät und meist erst zögerlich kulturelle Autonomie und rechtliche Sicherheit bei der Landnutzung zugestanden. Erst 1971 wurde in Schweden ein neues Rentierzuchtgesetzt eingeführt mit dem den Samen, die Rentierzucht betreiben, besondere Rechte bei der Nutzung von Boden und Wasser eingeräumt werden. Das erinnert doch fast an die Geschichte der Indianer Nordamerikas, die sich dort 100 Jahre früher abspielte und nicht erst im 20igsten Jahrhundert.

„Nachdem die Interessen der Samen jahrhundertelang von den nordeuropäischen Staaten missachtet wurden, tritt inzwischen eine zögerliche Verbesserung ein. Schleppend wird der samischen Bevölkerung immer mehr Autonomie zugestanden sowie ein Gewohnheitsrecht bei der Nutzung ihrer Weideflächen. Inzwischen gibt es offizielle samische Interessenvertretungen häufig auch in den regionalen und nationalen Parlamenten“, lese ich in den google-Hinweisen zum Thema Samen.

Rentierherde in Nordschweden im Juni

Leben sie auch am Rande unseres üblichen Betrachtungsraumes, so bekamen sie doch plötzlich die neue Zeit auf dramatische Weise zu spüren: Die Katastrophe von Tschernobyl am 26.04.1986, bei der in der Atomanlage von Tschernobyl Block 4 außer Kontrolle geriet, führte in der unmittelbaren Folge zu akuten Bedrohungen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Existenz der Samen. Rund 1600 Kilometer vom ukrainischen Ground Zero entfernt wurden die Rentiere durch das Fressen radioaktiver Pilze und Moose verseucht. In Norwegen wurden pro Kilogramm Fleisch 8200 Becquerel der radioaktiven Substanz gemessen. Da der Grenzwert in Norwegen bei 3000 Becquerel betrug, durften die Tiere weder verzehrt noch verkauft werden die Lebensgrundlage vieler Samen war damit für Jahre vernichtet.

Heute leben noch knapp 70.000 Samen in Norwegen, Schweden, Finnland und Russland. Ihr Lebensraum wird zunehmend eingeschränkt. Die samische Tradition und Kultur feiert an vielen Orten ein come back, vielleicht können auch wir dazu beitragen, diese Entwicklungen weiter zu fördern.

Es vergingen einige Jahre, bis wir wieder mit Indigenen zusammen trafen. Dieses Mal waren es die Grönländer oder Inuit. Kalaallit Nunaat nennen die Inuit ihr Land, der Name Grönland wurde aus dem altnorwegischen Wort Graenland abgeleitet. Am 5. August 1980 schreibe ich in Umanak, Westgrönland, ins Tagebuch:

„Ich sehe einen Fänger mit einer erlegten Klappmütze am Ufer und schaue ihm beim Verarbeiten seiner Beute zu. Zuerst wird das Fell vom Rumpf geschnitten. Dann zerlegt der Inuit das Tier mit gekonnten Schnitten. Die Blase wird vorsichtig extra behandelt, denn sie wird später als Fangboje genutzt. Verschiedene Teile werden gleich roh verzehrt, und auch uns bietet er diese Köstlichkeiten an. Wir lassen es uns nicht anmerken, dass es uns einige Überwindung kostet.

„Esquimantsik“, übersetzt „Rohfleischfresser“, so bezeichneten die Athabaska-Indianer abfällig ihre nördlichen Nachbarn. Von den Europäern wurde daraus die Bezeichnung Eskimo abgeleitet. Das arktische Volk nennt sich dagegen Inuit, „der Mensch“. In Grönland leben ethnologisch eingeteilt drei Gruppen Inuit-Grönländer bzw. Kalaallit: 26.000 Westgrönländer (Kitaamiut), 3.400 Ostgrönländer (Tunumiit) und 850 Nordgrönländer (Inughuit).

Auf unseren Kajak-Reisen in West- und Ostgrönland stellten wir immer wieder fest, dass es wohl zwei sichtbare Hauptprobleme in Grönland gab und sicher noch gibt: Der Müll und der Alkohol.

Schon bei unserer Ankunft in Umanak am 12. Juli 1980 schreibe ich in mein Tagebuch etwas frustriert:

„Wir begegnen einigen betrunkenen Grönländern auf unserem Weg durch den Ort. So richtig können wir uns mit dem Ort nicht anfreunden. Alles erscheint uns zu sehr importiert, zu dänisch, nur an wenigen Häusern gibt es noch Fischgestelle. Aber wir entdecken auch noch ein paar Kajaks. Die Umgebung ist dafür um so großartiger, der Umanak-Fjord ist voller riesiger Eisberge, und wir malen uns aus, dazwischen per Kajak herum zu paddeln.

Kajaktour in den Eisfjorden Grönlands, hier Fotos von unserer Tour in Ostgrönland

Schon bei diesen Tagebuchaufzeichnungen sind viele Probleme erkennbar: Die traditionellen, gewachsenen sozialen Gefüge wurden vielfach zerstört. Folgen sind teilweise ein Gefühl des Identitätsverlustes und der Perspektivlosigkeit. Alkoholmissbrauch und überaus hohe Suizidraten resultieren daraus. Auch die sicher grundsätzlich positiv gemeinten Ansätze der Regierung den Inuit zu helfen, führten zu neuen Problemen. So bewirkte die Einführung der Schulpflicht fast ein Vergessen der angestammten Sprache Inuktitut, weil man es verbot, diese Sprache in Schulen und Internaten zu sprechen. Durch das Fehlen von Schulen in kleinen Dörfern mussten viele junge Inuit Internate besuchen, was einer Verbannung aus dem traditionellen Leben und einem Zwang zu einer anderen Kultur gleich kam.

Die Dunkelheit der Wintermonate, Eis und Kälte schufen bei den Inuit das Bewusstsein der Abhängigkeit von der Natur. Die daraus resultierenden Entbehrungen und das Empfinden der Naturgewalten prägten die Kultur und das traditionelle Sozialsystem der Inuit. Mit ihren Kajaks jagten sie Robben, Walrösser und Wale oder betrieben vom Eis aus Fischfang es waren strenge Riten, nach denen das Töten und Zerlegen der Beute erfolgte, die nichts zu tun haben mit der Massenschlachterei der Wale und Robben westlicher und östlicher Nationen. Aber die genau hieraus erfolgten Verbote des Walfangs und der Zusammenbruch des Pelzhandels führten ebenfalls zur Zerstörung der Lebensgrundlagen der Inuit.

Umso faszinierter waren wir, als wir am 21. Tag unserer Ostgrönland-Kajaktour bei Regen und 4 Grad Celsius den Ort Tiniteqilaq besuchten.

Trotz des Regenwetters sind wir begeistert von der Ursprünglichkeit der Ortschaft. Wir entdecken vier Kajaks, die offensichtlich noch genutzt werden und völlig intakt sind. Sogar aus echtem Seehundfell sind sie gefertigt.“

Am nächsten Tag sind wir wieder im Kajak unterwegs, machen aber eine Pause im Ort, um bei besserem Wetter die Kajaks zu fotografieren. Es sind noch weit mehr als vier Kajaks vorhanden wie wir jetzt vom Wasser aus erkennen können. Auf in den Trockengestellen liegen sie direkt am Ufer. Ein Kajak ist wohl gerade vorher genutzt worden. Es liegt noch auf den Uferfelsen. Ein Grönländer schnitzt an einer Halterung für die Schwimmblase. Hier werden die Kajaks noch richtig genutzt.

Eindrücke aus dem Ort Tiniteqilaq in Ostgrönland

Diese Aufzeichnungen sind nun knapp 40 Jahre alt. Ob das alles heute noch so ist? Nicht nur das Leben der Inuit, auch das Klima hat sich inzwischen gewaltig geändert. Die langen Traditionen sind meist verschwunden. Selbst in dem entlegenen arktischen Gebieten haben es alte Kulturen schwer zu überleben und selbst unter den extremen Bedingungen der Arktis hat der Verdrängungskampf Neu gegen Alt verheerende Folgen für die indigenen Völker. Diese kamen vor ca. 3.000 Jahren von Sibirien über die Beringstraße und von Nordamerika nach Grönland. Mit den Walfangschiffen kamen Anfang des 17. Jahrhunderts auch gewaltige Veränderungen in der Kultur und im Leben der Inuit, denn die Walfänger tauschten Felle gegen Alkohol, Tabak und Gewehre. Frauen verdingten sich als Prostituierte. 1721 erklärte Dänemark Grönland zur Kolonie und besiegelte damit das Ende der Eigenständigkeit der Inuit. Das dänische Handelsmonopol war bis 1950 wirksam. 1953 hob Dänemark den Kolonialstatus auf und machte es zu einer Provinz im dänischen Königreich. Grönland erhielt 2 von 179 Sitzen im nationalen Parlament. Seit 1979 genießt Grönland Autonomie, die 2009 durch das Abkommen zur erweiterten Autonomie verstärkt wurde. Besonders die Überfischung grönländischer Gewässer führte 1985 zu einem Volksbegehren und zum Austritt aus der EU. Gegenwärtig versucht man durch die Erschließung von Rohstoffen eine weitere wirtschaftliche Eigenständigkeit zu erreichen. Wird mit diesen Entwicklungen das Tor auch zur Stärkung der eigenständigen Kultur und zur Rückbesinnung alter Traditionen weiter geöffnet? Es gibt einige Ansätze der wieder wachsenden Selbstwerteinschätzung der Inuit. So bringt der Rückgang des Eises durch den Klimawandel teilweise sogar einen besseren Zugang zu den Rohstoffen und es ist durchaus auch ein Ziel vieler Grönländer, hierdurch zu mehr Eigenständigkeit zu kommen. Die Frage nach den alten Traditionen wird hierdurch natürlich nicht beantwortet.

Die Zeit der Kajak-Jäger ist sicherlich vorbei, umso verwunderter und respektvoller betrachtete man unsere kleine Kajak-Reisegruppe bei unseren Touren im Eis in Westgrönland (1980) und Ostgrönland (1983). Ist mit derartigen Begegnungen sogar eine Chance zu sehen, grönländische Kultur weiter zu pflegen? Wir fühlten uns hier nicht als störende Eindringlinge in die Welt der Inuit.

Inuit in ihren traditionellen Kajaks, hier in Westgrönland Nähe Umanak

Durchaus ähnlich erging es uns in einer ganz anderen Ecke der Welt: Bei den Begegnungen mit den Seenomaden Südostasiens.

Sie waren mit Booten unterwegs und wir begegneten ihnen mit unseren Kajaks in den Inselwelten der Philippinen, Thailands, Malaysias und ohne unsere Boote auch in Sulawesi/Indonesien.

Begegnungen nördlich Palawan in der Inselwelt der Philippinen

Der Begriff Seenomaden steht für eine Anzahl unterschiedlicher Völker der südostasiatischen Inselwelt. In Thailand werden die Seenomaden Chao Leh genannt und auf birmanisch nennt man sie „Selon“ oder „Lelung“. Das größte unter den Völkern in der Seenomaden sind die Bajau. Es heißt, dass sie staatenlos sind, sie haben keinen Ausweis, besitzen keine Geburtsurkunde und haben keine Nationalität. So werden sie von der Bevölkerung auch sehr skeptisch gesehen

Vor uns taucht das Wasserdorf im Südbereich der Insel Gaya am Rande der Gaya-Bucht vor Kota Kinabalu auf. Malerisch chaotisch stehen die Häuser auf hohen Stelzen im Wasser. Wir wollen nicht zwischen den Häusern herumpaddeln. Man hat uns gewarnt. Es sind viele illegale Einwanderer hier von den Philippinen und aus Indonesien. Zwei Stunden sind es von hier per Schiff zu den südlichen Inseln der Philippinen“, schreibe ich in mein Tagebuch am 14.7.2007.

„Uns begegnen die Wasserdorfbewohner sehr freundlich, winken aus ihren Hütten. Besonders die vielen Kinder johlen, wenn wir vorbeipaddeln. Es ist ein großes Dorf auf dem Wasser, Hähne krähen, in vielen Hütten sehen wir Bewohner. Überall schaukeln zwischen den Stelzen die Boote oder sie sind hoch gezogen dazwischen aufgehängt. Die meisten Hütten sind mit Stegen verbunden, dazwischen gibt es ein wirres Geflecht von Wassergassen, in die wir uns aber nicht hinein trauen. Wir paddeln außerhalb des Dorfes weiter nach Norden. Eine große Bucht öffnet sich, wir haben den Blick auf weitere zwei Wasserdörfer. Über die niedrigen Hütten erheben sich die kleinen Kuppeln der Moscheen. In der Bucht liegen auch einige Fischerboote. Das Wasser ist so flach, dass einige Einheimische im Wasser stehen und Netze auswerfen. Ein Anwohner kommt auf uns zu gepaddelt. Er will eine Wettfahrt. Nach kurzer Strecke muss er einsehen: Wir sind schneller. Lobend hebt er den Daumen und lacht – und wir haben die Anerkennung der Dorfbewohner gewonnen. Wir steuern eine Sandbucht westlich der Dörfer an und landen im seichten Wasser an. Kaum sind wir aus dem Boot ausgestiegen, tauchen Kinder auf, die bald in großer Gruppe um uns herum toben. Leider gibt es hier kaum Möglichkeiten der Verständigung. Aber das ungezwungene, freundliche lachen der Kinder steckt an und so lachen wir mit ihnen um die Wette“, so schildere ich in meinem Tagebuch die Begegnungen mit den Bewohnern des Wasserdorfes. Eigentlich hatten wir vor, die Insel weiter zu erkunden, aber der dichte Regenwald reicht bis direkt an den Ufersaum mit Palmen, Schraubenpalmen und einem Geflecht aus Baumlianen. Ein grünes Dickicht liegt vor uns, da trauen wir uns nicht einen Schritt hinein. Zwischen den Ästen hat eine gelb-schwarze handtellergroße Spinne ihr Netz gespannt als wollte sie den Regenwald zunähen.

Wasserdorf im Südbereich der Insel Gaya am Rande der Gaya-Bucht vor Kota Kinabalu

Kaum sind wir aus dem Boot ausgestiegen, tauchen Kinder auf, die bald in großer Gruppe um uns herum toben.

Die Seenomaden, die auch als Wassermenschen mit und auf ihren Booten leben sind heute meist sesshaft geworden. Sie vertrauen vor allem dem Leben auf dem Wasser und glaubten, dass an Land die Ahnen, die bösen Geister und die Krankheiten wohnen. Beim Anblick der großen Spinne und des undurchdringlichen Urwaldes vor uns bleiben auch wir lieber auf dem Wasser.

Aber dieses Nomadenleben hat in der heutigen Gesellschaft gravierende Nachteile. Ohne festen Wohnsitz und ohne Ausweis gelten die nicht sesshaften Seenomaden als staatenlos, haben Probleme bei der ärztlichen Versorgung und können bei kleinsten Anlässen im Gefängnis landen. Die südostasiatischen Staaten, die Philippinen, Malaysia und Indonesien, versuchen sie deshalb in den Wasserdörfern sesshaft zu machen, um so ein unkontrolliertes Pendeln zwischen den Nationalstaaten zu verhindern..

Auf unserer Sulawesi-Tour 2018 erleben wir eines dieser Stelzendörfer auf der Togian-Insel Malenge, um hier die „Menschen des Meeres“ besser kennen zu lernen. Hier sind es die Bajau.

Bis in die zweite Hälfte des 20igsten Jahrhunderts wurde angenommen, dass alle Seenomaden Südostasiens in einem direkten ethnologistischen Zusammenhang stehen. Aber neuere Forschungen unterteilen die Seenomaden in drei Hauptgruppen:

1. Moken und Moklen

2. Orang Laut

3. Bajau

In Sulawesi lebt der Volksstamm der Bajau – heute nicht mehr als Nomaden, sondern in Stelzendörfern. Sie sind in diesem Dorf sesshaft geworden, und so können wir sie besuchen.

Weit über das Wasser hinaus gebaut ist das Dorf, Wohnsitze auf Stegen und Pfählen. Die Holzhütten sind einfach, allerdings entdecken wir dazwischen riesige Empfangsantennen – Fernsehprogramm-Empfänger. Die neue Welt hat Einzug genommen in die Welt der Seenomaden.

Auffällig sind die vielen süßen Kinder. Ein paar Schulkinder kommen uns entgegen. Sie können ein paar Brocken Englisch und wollen gerne fotografiert werden. Ein Junge mit einem langen Speer beobachte das Wasser vor uns. Rote und blaue Seesterne und eine Seeanemone mit zwei Clownsfischen rotweißgestreift entdecken wir. Aber der Junge hat noch mehr gesehen und trifft mit seinem Speer einen dünnen Hornhecht, den er stolz davon trägt“, beschreibe ich unsere Erlebnisse bei den Bajau auf Malenge.

Das Seenomadendorf auf Malenge

Als Seenomaden lebten die Bajau früher ausschließlich in Booten, aber diese Zeit scheint bei den Bajau auf Sulawesi vorbei zu sein.

„Auf der sope (Boot der Bajau) flackert ein Feuerchen. Geräusche. Kaffee wird zubereitet. Der alte Seenomade singt. Seine Stimme hört sich glücklich an. Selbstvergessen. Eine lange Dünung wiegt sacht die sope. Das Atmen des Meeres. Das Atmen der Welt“, so schreibt Milda Drüke in ihrem Buch „Die Gabe der Seenomaden“ und beendet damit ihre Dokumentation ihrer Reise mit den Wasser menschen Südostasiens. „Ein Buch von der Zärtlichkeit für die von der Zivilisation vergessen“, kommentiert die FAZ, auch daran müssen wir denken.

Noch lange klingen bei uns diese Gedanken nach.

Da wir oftmals besonders den seefahrenden Völkern nahe sind, waren wir auf unserer Sulawesi-Tour natürlich besonders interessiert an dem Volk der Bugis. In Sengkang in Süd-Sulawesi waren wir im Zentrum des alten Bugi-Königreiches unterwegs. Die Bugis waren in Südostasien als Seefahrer geehrt, als Piraten gefürchtet und als Händler und Fischen erfolgreich. Durch ihre Seidenwebetechnik mit traditionellen Farben und Mustern war die Region bekannt und die kostbare Handelsware wurde durch die erfahrenen Seeleute über die Meere getragen. Heute leben die meisten Bugis in kleinen Dörfern an der Küste, aber wir wollen ein schwimmendes Bugi-Dorf auf dem Tempe-See besuchen, um dort ein bisschen mehr vom traditionellen Leben dieser Seefahrer kennen zu lernen.

Das Bugi-Dorf auf dem Tempesee in Südsulawesi

In meinem Tagebuch vermerke ich am 23.09.2018:

„Er ist ein Bugi, raunt mein Nachbar mir ins Ohr. Dabei knattert der Motor des Longtail-Bootes so laut dass ich ihn kaum verstehen kann. Auf einem Fluss geht es in Richtung See. Holzhäuser auf Stelzen, davor Bootsanleger und Longtail-Boote zeigen, dass hier die Fischer wohnen. Bald wird es weiter und der Fluss öffnet sich zu einem großen See, dem Tempe-See. Holzgestelle zeigen den Weg an, dann tauchen Pflanzeninseln auf mit merkwürdigen Holzgestellen. Weiße Reiher, Stelzenläufer, Seeschwalben und Möwen fliegen kreischen auf, als unser Boot als knatterndes Ungetüm näher kommt.

Endlich erreichen wir auf Stelzen gebaute Holzhäuser. Bambusstege umgrenzen sie. Wie müssen uns erst daran gewöhnen auf den runden, wackeligen Bambushölzern sicher zu gehen. Ein Fischer empfängt uns freundlich lächelnd, er hat wohl unsere zaghaften Schritte auf dem Bambus bemerkt. Leichtfüßig laufen zwei kleine Kinder umher, während wir uns festhalten, um nicht ins Wasser zu rutschen. Die Familie mit Frau, Sohn und Tochter lebt hier in diesem floating village, dem schwimmenden Dorf. Rund 40 Häuser sind es, die weit auseinander im Wasser stehen.

Wir bekommen Tee und Kaffee mit gebackenen Bananen und genießen die ruhige Stimmung mitten auf dem See. Die schmalen Boote schaukeln leicht am Steg. Im hinteren Teil sind kleine Fische zum Trocknen ausgebreitet.

Die ruhige Abendstimmung, die orangefarbene untergehende Sonne, ein leises Plätschern – „das Atmen der Meere, das Atmen der Welt“, diese Worte von Milda Drüke fallen mir wieder ein. Hier auf dem Tempe-See scheint die Zeit ein bisschen langsamer zu gehen.

Ein weißer Reiher fliegt krächzend an uns vorbei, wohl um zu seinem Schlafplatz zu kommen. Auch wir wollen die Familie nicht stören, aber unser Bootsfahrer hat es offenbar nicht eilig. Er kennt sich aus auf dem See und steuert uns erst in der Dunkelheit wieder zurück.“

Die ruhige Abendstimmung, die orangefarbene untergehende Sonne, ein leises Plätschern – Abendstimmung auf dem Tempe-See bei den Bugis

Wir haben viele Bugis in Süd-Sulawesi kennen gelernt. Nicht nur die geschickte Seidenweberei, sondern viele weitere Traditionen der Bugis werden auch heute noch gepflegt und sind Teil des normalen Alltags. Traditionelle Kleidung, Schmuck und Riten bestimmen noch immer erhebliche Teile des Lebens zu den großen Festen wie Hochzeit und Beerdigung. Die Bugis stellen mit rund 5 Millionen Menschen eine der großen Volksgruppen in Indonesien dar. Sie leben heute als Händler, Fischer, Reisbauern meist in Küsten- oder Flussnähe. Ethnische Probleme sind hier im Süden von Sulawesi selten im Vielvölkerstaat Indonesien. In der Präsidialdemokratie Indonesien waren Bugis bereits Vizepräsidenten und Präsidenten.

Für uns sind es hier Begegnungen mit Menschen, die stolz sind, Bugis zu sein und anerkannter Teil der indonesischen Bevölkerung mit ihren besonderen Traditionen und Lebensformen. Noch Jahre nach unseren Begegnungen haben wir Kontakte und hören von einer Hochzeit, ganz im Bugi-Stil und in der alten Tradition.

Auf unseren Reisen waren es über die beschriebenen Begegnungen hinaus immer wieder die Erlebnisse mit den indigenen Völkern, die uns besonders beeindruckt haben. In Neuseeland waren es die Maoris, die „Aotearoa“, das „Land der langen, weißen Wolke“, um das Jahr 925 n. Chr., also lange vor der Entdeckung durch Abel Tasman 1642, besiedelt haben, heute aber eher an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden.

Wir begegnen den Indianern Nordamerikas, aber die berühmten Totempfähle haben nur noch musealen Charakter. Probleme mit den indigenen Völkern sind heute in Nordamerika allgegenwärtig.

Dann waren da noch unsere Begegnungen mit den Dayak in Borneo in ihren traditionellen Langhäusern im tropischen Regenwald.

                    Dayak in Borneo in ihren traditionellen Langhäusern

Bergvölker in Nordthailand: Longneckfrauen vom Stamm der Padaung, einer Untergruppe des Karen-Volkes; Nina unterhält sich mit einem gleichaltrigen jungen Mädchen

Auch unsere Besuche bei den Bergvölkern in Nordthailand haben wir in Erinnerung. Besonders beeindruckt waren wir von dem Volk der Longneck, die bekannt sind durch den eher grausam anmutenden Halsschmuck der Frauen.

Aber es bleibt uns ein fader Nachgeschmack sind das die Begegnungen, die wir uns vorstellen? Oder sind dieses nur Zurschaustellungen von fremdartig anmutenden Menschen und Traditionen? Für uns bleibt hier ein schlechtes Gewissen. Begegnungen, wie wir sie uns wünschen, kommen durch derartige Vorführungen, Ausstellungen und „Besichtigungen“ nicht zustande.

Was uns mehr bewegt, ist die Frage: Was kann jeder dazu leisten, dass alte Traditionen erhalten bleiben und was kam in heutiges Leben integriert und weiter entwickelt werden. Was können wir dazu beitragen, das Bewusstsein für den Umgang mit anderen Völkern und Kulturen positiv zu beeinflussen? Brauchen wir nicht ein neues Verständnis für eine bessere Zusammenarbeit?

Seit 1985 hat die „Arbeitsgruppe zu den indigenen Bevölkerungsgruppen“ an einer Deklaration über die Rechte der indigenen Völker gearbeitet. Die Deklaration wurde von der UNO-Generalversammlung am 13. September 2007 verabschiedet und stellt damit ein wichtiges Handlungsinstrument bei der Verwirklichung der Rechte der indigenen Völker dar. Die USA, Kanada, Russland, Neuseeland und Australien sprachen sich gegen diese Deklaration aus, insbesondere weil sie separatistische Bewegungen befürchteten. Aber einhundert 144 Staaten stimmten für die Deklaration! Das stimmt positiv und erscheint mir als Weg für eine bessere Zusammenarbeit und für mehr Begegnungen; Begegnungen auf Augenhöhe.

Quellen / Tipps zum Weiterlesen / Filme und Bücher / Artikel und Infos

Wustmann, Erich: „Wo das Eis die Grenze Schuf – Bei Menschen, Tieren und Pflanzen in der Eisregion“, Neumann-Verlag, Radebeul und Berlin, 1955

Herbert, Wally und Pantenburg, Vitalis: „Eskimos – Menschen im Land des langen Tages“, Österreichischer Bundesverlag Wien, 1976

Drüke, Milda: „Die Gabe der Seenomaden – Bei den Wassermenschen in Südostasien“, National Geographic, Frederking & Thaler, 2006

Schumacher, Melissa und Hess, Petra: „Sulawesi – On the road & Inside Indonesia, Indojunkie, Berlin 2016

Mauthe, Markus: “An den Rändern der Welt”, Kinofilm, FILMTANK, Nov. 2018

Mauthe, Markus: „Allein kann ich die Welt nicht retten“, 2020

Manser, Bruno: „Die Stimme des Regenwaldes“, Film von Nikolaus Hilber, 2019

Google: Live TV, „Die staatenlosen Bajau Südostasiens – Zwischen allen Fronten“

Google: Minderheitenrechte Dossier; UNO-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker Die Tagebuchaufzeichnungen stammen aus meinen Original-Tagebüchern, die Reisen sind ausführlich in den entsprechenden Reiseberichten dieser Reiseseite beschrieben.