Bilder: Fritz Naumann
„Ich wandere ja so gerne am Rennsteig durch das Land…“, so beginnt das bekannte Lied und bald folgt der Refrain: „Diesen Weg auf den Höh`n bin ich oft gegangen, Vöglein sangen Lieder. Bin ich weit in der Welt, habe ich Verlangen Thüringer Wald nur nach dir.“
Wie muss es meinem Vater ergangen sein? Nach sechs Jahren Krieg, Gefangenschaft und Internierungslager kam er am 27. November 1947 aus dem Lager Sandbostel wieder nach Hause. Aber sein zu Hause war ab da nicht mehr der Thüringer Wald, sondern Norddeutschland. Seine Heimat war hinter dem „Eisernen Vorhang“ in der damals sowjetisch besetzten Zone, die sich DDR nannte und später auch durch Stacheldraht und „Todesstreifen“ vom westlichen Teil Deutschlands getrennt war – unerreichbar für Leute „aus dem Westen“. Waren diese Erlebnisse, Empfindungen und der Schmerz vielleicht auch mit die Ursache für seinen frühen Tod 1978? Mein Vater – und wir alle konnten es uns damals nicht vorstellen, wieder frei und ohne drastische Kontrollen und Restriktionen in die alte Heimat zurückzukehren. Da blieben für Jahrzehnte nur Erinnerungen und kurze Besuche in der damaligen DDR.


Aber dann kam die Wende 1989/90, die Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und die alte Thüringer Heimat wurde zum neuen Bundesland Thüringen.
Auch in Gedanken an meinen Vater fuhren wir, Anke und ich 1993 nach Thüringen auch um den Rennsteig zu wandern, diesen Weg auf den Höhen durch den Thüringer Wald.
Die Autofahrt von Pößneck bis in den Thüringer Wald gleicht teilweise einer Irrfahrt: Schlecht ausgeschilderte Umleitungen, üble Wegstrecken im Bereich von Straßenbaumaßnahmen, überlastete kleine Straßen mit viel zu viel PKW und Schwerlastverkehr. Schön sind die Orte, durch die wir fahren, besonders durch ihre relativ homogene Materialwahl: Schieferdächer und Schieferverkleidungen, Baumaterial aus der Region.
Die gesamte Wanderstrecke des Rennsteigs beträgt 169, 3 km und führt rund 2350 Meter bergauf und 2130 Meter bergab. Die erste Erwähnung stammt aus dem 14. Jahrhundert. Er markierte in dieser Zeit die Grenze zwischen Franken und Thüringen. Da er während der DDR Zeit in Teilen innerhalb des Sperrgebietes lag, ist er erst seit 1990 wieder durchgehend begehbar. Der Rennsteig führt über den Kamm des Thüringer Waldes und Thüringer Schiefergebirges, streift den Frankenwald und führt dann in den Naturpark Thüringisches Schiefergebirge/obere Saale, aber wir wollen nur einen Teil der Strecke kennenlernen und erwandern.
Wir starten mittags vom Parkplatz Rennsteigbaude bei Wanderkilometer 115,5. Der Weg führt uns durch hohen Fichtenwald. Im moosigen Untergrund gibt es so viele Pilze, dass Anke immer wieder fasziniert vor Maronen, Schwefelköpfen und ähnlichen essbaren Pilzen stehen bleibt und sich bückt, als wollte sie Pilze sammeln. Ich verzichte lieber auf das Bücken, der Rucksack drückt noch etwas schwer.

Tief eingeschnittene Hohlwege führen durch einen hohen Fichtenwald bergauf. Ein Grenzstein hat die Jahreszahl 1847. Wir erreichen einen kleinen kahlen Höhenrücken. Über die Heideflächen werden weite Blicke frei auf den Ort Steinheit, ein Ortsteil von Neuhaus am Rennsteig, und die Talsperre Scheibe-Alsbach, in der das Wasser der Schwarza gestaut wird. Der Ort Steinheit mit gut 1000 Einwohnern liegt auf dem Kamm des Thüringer Schiefergebirges auf ca. 820 m Höhe und ist damit einer der höchstgelegenen Orte Thüringens. Nur rund 500 m östlich erhebt sich der höchste Berg der Umgebung: Der „Kieferle“ ist mit 868 Metern NHN der zweithöchste Berg des Thüringer Schiefergebirges. Noch mehr interessiert mich die besondere Vergangenheit des Ortes. Er war einst bekannt für seinen Goldbergbau. Constantin Kümpel schrieb hierüber das Buch „Gold auf den Steynernen Heyde“. Nach Schätzungen sollen hier in der Zeit von 1504 bis 1590 etwa 25 kg Gold gefördert worden sein. Auch die Glasindustrie, besonders für Baumschmuck, machte Ort und Region überregional bekannt.

Ich gebe Anke den Rat, lieber nicht nach Pilzen, sondern nach Gold zu suchen. Das Schürfen und Suchen nach Gold ist in Thüringen nicht grundsätzlich verboten, aber das Gold-finden ist wohl aussichtslos. Die Hauptabbauzeit lag hier im 16 und 17 Jahrhundert. Die Geschichte des kleinen Ortsteils ist beeindruckend und so steht er auch in der Liste der Kulturdenkmale von Neuhaus. Wir blicken etwas bewundernd auf den Ort mit seinen anthrazit-schwarzen Schieferdächern, den typischen Baumaterialien des Thüringer Schiefergebirges. Dieses gilt auch ganz besonders für den Ort Masserberg, durch den der Rennsteig bald führt. Die ortstypische Architektur mit Schieferdächern und Schieferverkleidungen an den Häusern macht den Ort zur „Perle des Rennsteigs“. In der Nähe liegt auf 797 Metern NHN das Quellgebiet der Werra, die nach 300 km Flusslauf bei Hannoversch Münden zusammen mit der Fulda zur Weser wird.
Als besonderes Highlight erreichen wir auf dieser Etappe im lichten Fichtenwald den Dreistromstein (Touringstempel 151), einen dreiseitigen Obelisk. Constantin Kümpel gilt als Erforscher und Erbauer des Dreistromsteines. Als Lehrer war er von 1889 bis 1910 am Technikum in Hildburghausen tätig, einem Ort mit für mich vielen Familienerinnerungen. Seit 1906 kennzeichnete der Dreistromstein die Wasserscheide von Weser, Elbe und Rhein im Thüringer Wald. Um den unterschiedlichen Strömen hier ein Denkmal zu setzen, besteht der Fuß des Obelisken aus Granit von der Elbe, Grauwacke von der Weser und Quarz vom Rhein. Wir halten andächtig inne, sind doch diese Ströme in unserem Lebensweg und unseren Erlebnissen so bedeutungsvoll.
Eine Wandergruppe kommt uns entgegen: „Gut Runst“, rufen sie uns zu. Es ist der traditionelle Wandergruß hier auf dem Rennsteig und bedeutet so viel wie „Viel Vergnügen beim Wandern“.
Unsere erste Etappe beenden wir in Kahlert, einem kleinen Ortsteil von Neustadt am Rennweg auf Thüringer Waldes. Von hier ab fällt die Landschaft steil ab zum Talgrund und von dort geht sie über in die Talsperre Schönbrunn. Diese wurde 1977 in Betrieb genommen. Sie liegt im Landkreis Hildburghausen und hier schließt sich wieder ein Ringlein meiner Erinnerungen: In Hildburghausen lebten am Ende des Zweiten Weltkriegs meine Großeltern in einer herrlichen Villa mit Park. Bilder meines Vaters kommen mir in Erinnerung, auch das gehört zu unserer Familientradition und zu unseren Erinnerungen.

Aber wir wollen weiter auf dem Rennsteig wandern. Die erste Etappe bis zum Wanderkilometer 90,7 haben wir geschafft.
Nach rund 25 km ist es kein Wunder, dass wir am nächsten Morgen erst nach 11 Stunden Tiefschlaf aufwachen und uns an einen schön gedeckten Frühstückstisch setzen. Wie sich herausstellt bedient uns die noch sehr rüstige Uroma der Familie und es bleiben keine Wünsche am Buffet offen. So starten wir erst um 9.30 Uhr. Es ist sonnig, ein schönerer Herbsttag ist kaum vorstellbar, nur dass der Rucksack heute noch mehr drückt als gestern.
Parallel zur Straße führt der Weg nach Neustadt. Wir erreichen die rund 1400 Einwohner zählende Stadt nach rund zwei Kilometern. Bis 1920 waren es zwei getrennte Gemeinden, da der Rennsteig als Grenze zwischen dem Herzogtum Sachsen-Meiningen und dem Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen mitten durch den Ort verlief. Übernachtungsmöglichkeiten sehen wir reichlich, aber die brauchen wir hier nicht. Wir nehmen uns Zeit, die Michaeliskirche zu besichtigen. Sie markiert das Herzogtum Sachsen-Meiningen. Die Mitte des 19. Jahrhunderts errichtete Kirche (1856 bis 59) erhielt erst durch den Altenburger Künstler Medardus Hobelt die bunten Glasfenster im Altarraum.
Auf schönen Waldwegen geht es weiter bergauf und bergab in Richtung Dreiherrenstein. Aber erst über den großen „Burgberg“ (811 m) und den „Morast“ (838 m) erreichen wir den großen Dreiherrenstein an der Grenze zwischen Thüringer Wald und Thüringer Schiefergebirge. Er ist nicht nur der Kreuzungspunkt mehrerer alter Handelsstraßen, sondern er kennzeichnet auch das Zusammentreffen von Fürstentümern, Herzogtümern und Königreichen in einer über 400-jährigen Geschichte. Die erste Erwähnung wird auf das Jahr 1587 datiert. Im Stein selbst ist das Jahr seiner Aufstellung 1596 eingemeißelt. Ich erspare mir, die vielen Herzöge, Fürsten und Grafen aufzuzählen, die hier im Laufe der deutschen Kleinstaaterei ihren Machtanspruch geltend gemacht haben. Immerhin bestand das Deutsche Reich einmal aus vier Königreichen, sechs Großherzogtümern, fünf Herzogtümern und sieben Fürstentümern. Auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands gab es noch um 1800 einen Flickenteppich von über 300 Klein- und Mittelstaaten, die vielfältig verbunden und verbandelt waren. Hier am Großen Dreiherrenstein wird uns diese deutsche Vergangenheit vor Augen geführt und in Erinnerung gerufen, denn auch Thüringen war zur Zeit des Deutschen Reiches in ein Großherzogtum, drei Herzogtümer und vier Fürstentümer aufgeteilt.
Statt uns weiter mit den Wirren der Vergangenheit zu beschäftigen, genießen wir lieber den Thüringer Wald. Er ist einer der weltweit insgesamt 759 UNESCO Biosphärenreservate. Ziel ist es, als nationale Naturlandschaft Menschen und Natur in Einklang zu erhalten: Weite Bergmischwälder, klare Bergbäche, blütenreiche Wiesen und mystische Hochmoore, in denen es noch Birkhühner, Schwarzstörche, Fischadler, Eisvögel und viele andere Tierarten gibt. Auch der Uhu hat hier sein angestammtes zu Hause. Kein Wunder also, dass auch wir es genießen, wieder einmal Thüringer Wald zu atmen.


Aber davon wird man beim Wandern nicht satt. So gönnen wir uns am Dreiherrenstein eine Pause. Es gibt zwar ein großes Haus mit Restaurant, aber wir bleiben lieber draußen. An dem rustikalen Holztisch gönnen wir uns ein „uriges aus dem Thüringer Wald“, Schmiedefelder Rennsteigpilz.
Der Rennsteig führt weiter parallel zur Straße, so dass wir leider die vorbeibrausenden Autos hören. Bei Wanderkilometer 63,6 erreichen wir das Rondell in Oberhof. Dieses Denkmal der Verkehrsgeschichte erinnert an den Bau der Straße 1830/32 durch Herzog Ernst I von Sachsen. Auf der 1834 aufgestellten Stele lesen wir die Inschrift: „Wie sich die Straße so sicher und leicht zu den Höhen bergauf schwingt, Länder mit Ländern verknüpft, Handel und Künste belebt“. Heute brausen vor allem Wintersportler und Touristen die Straße entlang nach Oberhof. Es sind rund 500 000 Übernachtungen jährlich. Oberhof liegt auf einer Hochfläche, auf der die Schneehöhen bis zu 5,75 m angegeben werden – ein überregional anerkanntes Wintersportzentrum, in dem 1931 erstmals Weltmeisterschaften im Zweierbob und auf der Hindenburgschanze in der Nordischen Kombination ausgetragen wurden. Aber noch ist es zum Glück Herbst, der kalte Wind deutet aber schon die rauen Zeiten an. So lassen wir uns lieber im „Luisensitz“ mit Forellenfilet, Rehmedaillon und Feigen verwöhnen, schließlich haben wir schon insgesamt rund 52 km Rennsteigwanderung hinter uns. Bis zu unserem selbstgesteckten Ziel Tambach-Dietharz sind es nur noch knapp 19 Kilometer.

Vom Grenzadler in Oberhof geht es weiter durch den Thüringer Wald mit traumhaften Ausblicken auf eine bezaubernde Naturlandschaft. Wir genießen die Blicke auf idyllische Bergwiesen ehe es zum Steinbruch im Spittergrund geht. Die Strecke hat heute einen Höhenunterschied von 195 Metern, die wir mit ersten Blasen an den Füßen überwinden müssen.Da brauche ich keine Überredungskünste, um bei der „Ausspanne“ kurz vor unserem Ziel Anke für eine Thüringer Rostbratwurst zu begeistern. Diese Spezialität ist neben den Thüringer Klößen so etwas wie ein Nationalgericht.
Nach etwa 70 Kilometern Rennsteigwanderung beenden wir unsere Tour in Tambach-Dietharz am Nordhang des Thüringer Waldes. Auch dieser Ort hat Weltgeschichte geschrieben Martin Luther, der hier 1537 durchreiste und erkrankt war, trank das Wasser des heute nach ihm benannten Brunnens und wurde von seinen Leiden erlöst. Dankbar schrieb er an seinen Freund Philipp Melanchthon: „…aus Tambach, dem Orte, da ich gesegnet wurde, denn hier ist mein Phanuel (übersetzt Angesicht Gottes), an dem mir Gott erschienen ist.“ Wir hoffen jetzt nur auf die Linderung unserer Fußblasen und lassen uns per Taxi zurück nach Neuhaus bringen, wo unser Auto steht. Dann geht es weiter im eigenen Wagen weiter zurück nach Pößneck, wo unser Sohn und Oma warten. Zum Glück ist der Urlaub in Thüringen noch nicht beendet, es warten noch die Thüringer Klöße und eine Überraschung am nächsten Tag auf uns: An der Windschutzscheibe unseres Wagens heftet ein Zettel „In Ihrem Auto befindet sich eine niedliche kleine Maus. Verkehrsüberwachung Pößneck“. Wir haben also ungewollt ein kleines Andenken aus dem Thüringer Wald mitgebracht.
