Die Sprache des Wassers

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Das Leben ist wunderbar, eine wunderschöne, märchenhafte Welt umgibt uns und oft werden sogar die Märchen wahr.

Und so gibt es eine märchenhafte Geschichte, die ich berichten möchte und die zeigt, dass vieles, das wir erleben, nicht immer ganz so einfach zu erklären ist, wie es den Anschein hat oder dass manches, was zunächst einfach erscheint, doch einen märchenhaften Hintergrund hat.

Keiner wird widersprechen, wenn ich behaupte, dass Wasser eine besondere Sprache hat: Es murmelt, wenn es über die Uferkiesel fließt; es klingt klar und silberhell am frischen Gebirgsbach; es ächzt, rauscht und faucht an Wehren, es stöhnt und brüllt bei Sturm auf dem Meer – aber ist das die Sprache des Wassers?

All das ist eher oberflächlich, wir müssen viel intensiver hinhören, um die wahre Sprache des Wassers zu erleben und zu verstehen:

Da saß ich eines Tages im hohen Gras und tat das, was wir Paddler so gerne tun: Wir lassen die Seele baumeln. Hin und her, nicht zu hektisch, sondern eher wie das Gras um uns herum, das sich im schweren Morgennebel sanft neigt. Ein

Herbstnebeltag, der durch die besondere Morgenstimmung bereits märchenhaft beginnt. Noch ist die Sonne kaum zu erahnen, die Kraft und Helligkeit, die sie bald entfalten wird.

Plötzlich dringt es merkwürdig an mein Ohr: Eine kleine, zarte Stimme, gerade hörbar für jemanden, der ganz ruhig daliegt, wie man es kaum in der heute so hektischen Zeit noch schafft und es schon deshalb als etwas ganz Besonderes empfindet.

„Mir ist schon ganz schwindelig, den ganzen Morgen schwirre ich schon in der dicken Luft umher! Hilfe, wo kann ich mich denn nur festhalten!“ So piepst es leise an mein Ohr, aber ich kann nichts erkennen, ich liege hier allein im Gras im dichten Nebel.

„Halte Dich doch an einem Grashalm fest, das habe ich auch geschafft, dann liegst Du ganz weich, so wie ich hier auf meinem Halm!“, schallt es von der anderen Seite heran.

Jetzt weiß ich, wo ich suchen muss: Neben mir im hohen Gras, da scheint das besondere Geheimnis zu stecken. Und jetzt beim genauen Hinsehen komme ich hinter das Geheimnis: Wie Perlenschnüre hocken die Tropfen auf dem Gras und unterhalten sich in der Stimme des Wassers.

„Uff, geschafft, ich bin gelandet“, höre ich die mir schon bekannte Stimme. Und jetzt, wo ich weiß, wo ich suchen muss, kann ich auch schnell den kleinen Gesprächspartner gut erkennen.

Doch kaum habe ich die kleinen Tröpfchen erkannt, beginnt der Grashalm zu schwanken und das Tröpfchen rutscht bedenklich an den Rand des Halmes.

„Hilfe, Hilfe“, ruft es mit schriller Stimme, die ich jetzt gut hören kann, „ich falle, ich habe keinen Halt mehr!“

Leider kann ich ja nicht helfen, ich würde das arme Tröpfchen mit meinen Fingern zerquetschen, also schaue ich einfach zu, sehe nun ganz deutlich, wie das kleine Wassertröpfchen auf dem Halm immer weiterrutscht und schließlich herabtropft.

Doch was geschieht nun? Ein Wassertropfen kann sich nichts brechen, es hat keine Arme, keine Beine. Es bekommt noch nicht einmal blaue Flecken! Nur die schöne Form ist plötzlich dahin: Mein Wassertröpfchen ist verschwunden, wie aufgelöst – und das ist ernst zu nehmen, denn beim Herabfallen ist das Tröpfchen in einem kleinen Rinnsal gelandet und schwimmt nun mit vielen anderen Tröpfchen in Richtung Bachlauf.

Prima, denke ich, nun bist Du bei deinen Geschwistern und Freunden, eng zusammen im großen Wasser vereint, ein ganz neues Erlebnis für ein kleines Tröpfchen.

Munter sprudelt es den Bachlauf entlang, das Wiedersehen mit den Geschwistern und Freunden ist ein großes Ereignis und scheint auch den einzelnen Tropfen zu gefallen, die sich zu einem großen Fluss vereinen und darin weitersprudeln. Für uns Menschen hat das nur einen großen Nachteil: Die einzelnen Tröpfchen sind nun aufgegangen in einem großen Meer von tausenden Tröpfchen, die nun für uns Menschen nicht mehr unterscheidbar sind und auch in ihrer Stimme nicht mehr so erkennbar sind. Auch wir Paddler haben da unsere Mühe: Das Rauschen der Wellen übertönt die einzelnen zarten Stimmen der kleinen Tröpfchen so wie in einem Menschenmeer, in dem wir auch die einzelne Stimme nicht mehr erkennen können. Nur manchmal, wenn die Boote durch die Wellen schneiden und das Wasser am Bug anschlägt, dass einzelne Tropfen hoch aufspritzen, dann gäbe es vielleicht eine Möglichkeit, die Stimme des Wassers zu hören, aber wer hat in solchen Situationen schon die Ruhe, jetzt genau hinzuhören.

Und so geschieht es, dass selbst wir Paddler die Stimme des Wassers nur selten zu hören bekommen, insbesondere auf den großen Flüssen oder im Meer, wo das laute Rauschen, das Donnern der Brandung und die anderen Geräusche bei weitem überwiegen. Die einzelnen Tröpfchen, da bin ich mir sicher, die unterhalten sich weiter, denn es gibt kaum etwas Lebendigeres als Wasser.

Doch es lauern auch Gefahren: Da gibt es das Abwasser – Schmutz, Öle und Chemikalien – schrecklich, der Gedanke, dass derartiges meine Wassertröpfchen bedrängen könnte.

Ein ganz besonderes Erlebnis ist es, wenn ein Wassertröpfchen einen menschlichen Freund – vielleicht den von der Wiese im Morgennebel – wieder erkennt. Dann versucht es, sich bemerkbar zu machen, ruft laut und lauter. Und hier gibt es etwas, das der Volksmund bei der menschlichen Stimme wie folgt beschreibt: Wenn sie flüstert, bricht schon Glas. Damit wird beschrieben, dass die hohen Frequenzen der Stimme solche Schwingungen verursachen können, dass das Glas zerbricht. Literarisch hat Günter Grass dieses Phänomen in seiner „Blechtrommel“ ausführlich beschrieben. Doch wo ist im Wasser Glas zu finden? Natürlich nicht Glas, hier zerbrechen die Kieselsteine auf dem Grund. Sie zerbrechen und in die Bruchlinie sickern andere Stoffe ein und bilden so die Strichsteine.

Und so erinnern die Strichsteine an unsere Wassertröpfchen, die uns in ihr Herz geschlossen haben und so laut nach uns gerufen haben, dass die Kiesel gesprungen sind und so die Strichsteine geschaffen haben. Kaum zu glauben, aber wahr. Diese Steine sind der leibhaftige Beleg für die Sprache des Wassers und geben uns einen sichtbaren Beleg für die Existenz unserer Freunde, der sprechenden Wassertröpfchen. Und eines ist sicher: Wenn sie nicht verdunstet sind, dann schwimmen sie noch heute!