Der goldene Oktober

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Genuss für alle Sinne und den Magen – unterwegs im Herbst –

Es ist wieder ein Herbst in dem sich die Natur so üppig bunt entwickelt, dass die Gold-, Gelb- und Brauntöne vereint mit dem Dunkelgrün der Nadelbäume und dem strahlenden blauen Himmel sich förmlich in die Seele brennen. Das Farbspiel ist so üppig, dass es manch einer wohlmöglich als „dekadent“ bezeichnen könnte – ausschweifend, übersättigt, eine übermäßige Verschwendung aus dem Farbkasten der Natur. Diese Farben bedecken durch das herabfallende Laub den Boden, überziehen wie ein impressionistisches Gemälde die Vegetation und vervielfältigen sich im Wasser der Eifelmaare.

Auch die Wasservögel in den Maaren, die Enten, Haubentaucher und Bläßhühner, scheinen in einer goldenen Märchenwelt zu schwimmen. Die Landschaft im Laubwald scheint mystisch verzaubert zu sein, auch wenn es nur eine kurze Zeit ist, bis die ersten Windböen des Herbstes die Blätter von den Bäumen weht. Es sind nur noch wenige Vogelstimmen im Wald zu hören, dafür das leise Rauschen des Windes im Wald der lockeren Blätter un d das leise Klicken, wenn das trockene Laub auf dem Boden landet.


Est wird für uns wieder Zeit für Eifelwanderungen dort, wo wir diese Atmosphäre förmlich einatmen. Bei der Vorbereitung unserer Tour kommt mir ein altes Bild meines Vaters in den Sinn: Eine Herbststimmung. Sicher ist es verbunden mit Erinnerungen an seine alte Heimat, den Thüringer Wald. Aber er war in Norddeutschland und dort oft auf der Suche nach Waldlandschaften und Natur. Eigentlich wollte er, so hatte er es mir erzählt, einmal Förster werden, verbunden mit den Tieren und Pflanzen des heimatlichen Waldes. Und so waren wir zusammen sehr oft unterwegs, den Klängen der Natur und des Waldes zu lauschen.

Der Krieg hatte vieles verändert: Die alte Heimat war hinter dem „Eisernen Vorhang“ verschlossen, aus dem Thüringer Wald war die norddeutsche Küstenlandschaft geworden; aber geblieben war die Liebe zur Natur und das Wissen um seine Schätze und das waren die Pilze!
Schon in meiner frühen Kindheit waren wir unterwegs, damals als in der Nachkriegszeit Pilze nicht nur als Delikatesse galten, sondern auch als billige Nahrungsergänzung für die Familie. Wildpilze waren nicht nur als Nahrungsergänzung für Privatsammler, sondern auch im volkswirtschaftlicher Sicht von besonderer Bedeutung. Im „Handbuch für Pilzfreunde“ (Michael –  Hennig, VEB Gustav Fischer Verlag Jena, 1968) lese ich der Umsatz von Pilzen im Jahr 1902 auf den Lebensmittelmärkten in München:
Steinpilze 160 000 Kilo, Champignons 45 000 Kilo, Nebelkappen u. Semmelporlinge 9000 Kilo, Riesenschirmpilze 6000 Kilo, Birkenpilze und Rotkäppchen 80 000 Kilo, Pfifferlinge 40 000 Kilo, Täublinge 15 000 Kilo, Hallimasch 350 Kilo, Echte Reizker 150 Kilo und einige mehr.
Die Umsatzzahlen zeigen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung der Wildpilze. Da wundert es kaum, dass in der wirtschaftlich schwachen Zeit der Nachkriegsjahre das Pilzesammeln für viele Familien eine besondere Bedeutung hatte. Mein Vater war da besonders einfallsreich und fündig – schließlich musste eine vierköpfige Familie durch das Jahr gebracht werden bis zur nächsten Pilzsaison.


Bei einer derartigen Anleitung blieb es nicht aus, dass auch ich vom Lehrmeister Vater das Pilzesuchen zur Leidenschaft entwickelte. In den vergangenen 50 Jahren hat sich in der Natur so vieles verändert, dass es heute nicht vorstellbar, nicht erlaubt und nicht ökologisch vertretbar ist, derartige Mengen dem Naturkreislauf zu entziehen. Aber der Sammeltrieb ist geblieben.
So zieht es uns auch in diesem Herbst wieder zum Pilzesuchen in die Vulkaneifel – fast vor unserer Haustür.
Von Lissendorf, an dessen Rand unsere Ferienwohnung liegt, geht es erst einmal wie so oft in der Eifel bergauf. Aber dann tauchen wir ein in einen bunten Herbstwald. Für unseren kleinen Enkel ist es das erste Mal, dass er die bunten Farben des Herbstes erlebt. Aber bald zieht er es vor, die Luft zu genießen und sich von den Klängen des Waldes und dem Rumpeln des Kinderwagens in den Schlaf wiegen zu lassen.

Wir haben Zeit, uns dem Pilzwald zu widmen. Die Feuchtigkeit und das milde Wetter haben dazu beigetragen, dass eine wahre Pilzschwämme zu erleben ist. Auch wenn es sich vor allem um für uns nicht bekannte Schwindlinge, Schüpplinge und Helmlinge handelt, für uns sind sie Anzeiger für gute Wachstumsvoraussetzungen für Pilze.

Überwucherte Baumstümpfe mit Schwefelköpfen fallen ins Auge. Sie gehören zur Gruppe der Schwefelköpfe, Träuschlinge, Kahlköpfe und Muschelfüßchen (Psilocybe), die eine besondere Geschichte haben. Die Gruppe zählt in Deutschland 50 Arten. Eine Blätterpilzart mit orange, rot, gelb, ocker, braun und rotbraun gefärbten kegelförmigen oder gewölbten Hüten, von denen ich nur zwei Arten sicher kenne: Den Grünblättrigen Schwefelkopf und den gut schmeckenden Graublättrigen Schwefelkopf.

Als ich Sohn Nils die Unterscheidung erkläre, probiert er den schwach giftigen grünblättrigen Pilz und ist entsetzt. Heftig ausspuckend schimpft er und sieht mich vorwurfsvoll an, eine bittere Lehrstunde! Diese Pilzgruppe muss offenbar bereits früh die Menschen beeindruckt haben. Im Buch „Die Enzyklopädie der Pilze“ lese ich: „In dem Adam und Eva nach dem Sündenfall zeigenden Relief auf den dem Bronzeportal des Domes zu Hildesheim aus dem Jahr 1015 ist der Baum mit den verbotenen Früchten in Form von zwei an den Spitzkegelegen Kahlkopf erinnernden Pilze dargestellt. Anstatt des üblichen Feigenblatts halten Adam und Eva jeweils eine abgepflückte Kappe dieser Pilzart vor ihre Scham.“


Ob ich das beim Anblick dieses Meisterwerks erkannt hätte? Und warum gerade diese Pilzart?
Der Spitzkegelige Kahlkopf ist der am häufigsten vorkommenden psilotcybin-haltigen Blätterpilze in den gemäßigten Zonen der Erde und wirkt wie eine Droge. Schon bei geringer bis mittlerer Dosis führt der Genuss innerhalb kurzer Zeit zu Rauschzuständen bis Pseudohalluzinationen. Kein Wunder also, dass dieser „Zauberpilz“ oder „Magic Mushroom“ mit seinen Wirkstoffen, die Ähnlichkeit zu den körpereigenen „Glückshormonen“ haben, in Deutschland einen ersten Aufschwung in der Nachkriegszeit um 1957 hatte, als Modedroge für Hippies und Aussteiger avencierte und dann in den 1990er Jahren mit dem „Trend zurück zur Natur“ erneut in Gebraucht kam. Heute ist das Sammeln, Handeln und der Besitz ein Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz und verboten.

Bekannter als der Spitzkegelige Kahlkopf ist der Fliegenpilz und dieser ist sicher der bekannteste aller Pilze, obwohl er giftig ist. Als wir vor einer auffallend schönen Fliegenpilzgruppe auf dem Waldweg stehen bleiben, kommen zwei Wanderer vorbei und meinen übereinstimmend: „Fliegenpilze sind doch die schönsten Pilze!“ Eigentlich mag ich derartige Rankings nicht, da es doch so viele schöne Pilze im Wald gibt, aber hier muss ich den Wanderkollegen Recht geben.

Fliegenpilze enthalten unter anderem Muscaridin, ein Gift, das je nach Dosis bei den Menschen rauschartige Aufregungs- und Verwirrungszustände, Halluzinationen, Heiterkeit und Tobsucht hervorruft. Es wird beschrieben, dass Fliegenpilze in manchen Gegenden Sibiriens als Rauschmittel genutzt wird, das ähnlich einer Alkoholvergiftung wirkt. In vielen Mythen und Sagen tachchen diese auffallenden Pilze auf. Der Name Fliegenpilz geht wohl auf den Brauch zurück, gezuckerte Fliegenpilzstücke mit Milch zu übergießen und dieses Gemisch als Lockmittel für Fliegen zu verwenden, um sie zu vergiften.

Für uns sind es aber auch nicht nur schöne Pilze, sondern sie gelten als auffällige Anzeigerpflanzen für das Vorkommen von Steinpilzen in derartigen Biotopen. Aber zunächst stolpern wir förmlich über Mengen von Hallimaschpilzen. Früher haben wir sie gekocht in Kartoffel-Pilzsuppe gegessen. Es ist ein Massenpilz, der früher oft zentnerweise gesammelt wurde, aber er ist roh giftig und für manche Menschen auch gekocht unverträglich. Wir staunen und lassen die Pilzmassen lieber weiter wachsen. Zum Trost erläutere ich die volkstümliche Variante des Namens dieses Pilzes mit der abführenden Wirkung: „Hall im Ar…“  Lachend geht es weiter auf dem Moosteppich unter den hohen Fichten.

Die kleinen und größeren Pilze stehen so oft wie selten in geschlossenen „Hexenringen“.  Da sich das Pilzmyzel unterirdisch bei ungestörter Bodensituation in alle Richtungen gleich ausbreitet, können die Fruchtkörper, Pilze, plötzlich über Nacht kreisrund nebeneinander aus dem Boden wachsen. Der Name Hexenring oder Feenring stammt von dem Volksglauben, sie seien Versammlungsorte von Hexen und Feen , deren Betreten magisch oder verboten war.
Es gibt etwa 60 Pilzarten, die derartige Wuchsbilder erzeugen. Auch die Riesen-Schirmpilze, Parasol, gehören dazu, und die nehmen wir gerne mit.


„In Mehl, Ei, Paniermehl gewendet und dann gebraten schmecken sie wie Kalbsschnitzel“, hat mein Vater immer gesagt. Heute essen wir dazu ein Dipp aus Mayonnaise, Knoblauch und Zitrone. Die besondere Variante hierzu ist: Parasol Cordon bleu, wuchtig, aber köstlich! Doch die Verwechslungsgefahr mit den tödlichen Weißen und Grünen  Knollenblätterpilzen besteht und deshalb muss dringend davon abgeraten werden. Bei den 22 Todesfällen durch Pilzverzehr in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2018 waren zu 90% Verwechslungen mit Knollenblätterpilzen die Ursache.


Aus diesen Gründen sollte insbesondere auch vom Sammeln der Champignons abgeraten werden!
Wie zum Hohn sehen wir vor uns große Gruppen der Anis-Champignons. Durch ihren Anisduft und die rosa Lamellen sind sie für mich eindeutig identifizierbar und jeden gesammelten Pilz prüfe ich genau. In der Ferienwohnung gibt es dann nach einer Pilzsuppe eine Pizza Funghi mit Anis-Champignons.

Aber diese Blätterpilze sind natürlich nicht unsere wirkliche Ausbeute. Unsere Pilzjagd gilt in erster Linie den Röhrenpilzen und hier natürlich den Steinpilzen. Auch da hat die Eifel einiges zu bieten. Im feuchten Moos zwischen Heidelbeerpflanzen und auf den Waldböden finden wir Maronen, Rotfußröhrlinge, Butterpilze und Steinpilze un d auch ein paar Pfifferlinge..

Da ist schnell eine Selbstkontrolle angesagt: Ein bis zwei Kilo Pilze pro Person dürfen gesammelt werden sagen die Gesetze, aber jedes Bundesland, jede Region kann andere Bestimmungen erlassen. Zu Viert dürfen wir also vier bis acht Kilogramm Pilze aus dem Wald mitnehmen, Enkel nicht mitgerechnet. Bei Steinpilzen sind 4 kg allerdings schnell erreicht, aber schließlich reicht es dann doch in den nächsten Tagen für „Steinpilze mit Mozzarella und Thymian gegrillt“, „Steinpilz-Carpaccio“ und ein besonders kulinarisches Highlight: „Gefüllte Steinpilzstiele mit Bandnudeln“. Zu den durch Kommissar Maigret berühmten „Polenta mit Steinpilzen“ oder den nach Maigret „Gefüllten Steinpilzhüten“ kommen wir dieses Mal nicht.
Irgendwann ist Schluss mit Pilzen!
Aber einige skurrile Pilzarten aus dem Reich der rund 14. 400 Pilzarten in Deutschland, davon 40 Arten Speisepilze und 60 Arten ernstzunehmende Giftpilze, sind für mich doch erwähnenswert:
Die Erdsterne und die Tintenfischpilze, beide Arten sind durch ihr besonderes Erscheinungsbild unvergesslich. Auch die Herbastlorcheln zählen für uns zu den besonderen Pilzen.

Zu berücksichtigen ist insgesamt, dass Pilze keine Pflanzen sind. Sie stellen ein eigenes Reich dar, denn sie haben weder Blattgrün noch Samen, sondern Sporen. Noch sonderbarer wird es bei den Schleimpilzen, einer ca. 500 Arten zählenden Gruppe von Organismen, die sich von allen anderen Lebewesen unterscheidet und genau genommen nicht einmal zu den Pilzen zählt. Aus Sporen entstehen amöben- und flagellatenähnliche mikroskopisch kleine kriechende oder schwimmende Anfangsstadien, die in ein sich horizontal oder vertikal fortbewegendes Stadium übergehen und schließlich in einem ortsgebundenen Stadium mit Fruchtkörper enden.  (Enzyklopädie der Pilze, Gerrit J. Keizer, o. J.)


Fast erinnert das an Aliens und führt uns viel zu weit weg von den Genüssen des Herbstwaldes.

Anhang
Dieser Artikel soll keine Anleitung zum Pilzsammeln sein und auch keine Hinweise geben, welche Pilze essbar oder giftig sind. Hierfür gibt es ausreichend Fachliteratur, außerdem muss dringend davor gewarnt werden, Pilze nach Büchern, Anleitungen oder Internetbestimmungs-Apps zu sammeln. Das ist viel zu gefährlich! In den Jahren 2000 bis 2018 verzeichnet man in Deutschland insgesamt 4412 stationäre Behandlungen und 22 Todesfälle aufgrund toxischer Wirkung verzehrter Pilze. 90% der tödlichen Pilzvergiftungen stammen vom Grünen Knollenblätterpilz! Vielmehr ist es nur das Ziel dieses Artikels, vom Zauber der Magie zu berichten, der den überkommt, der in das Reich der Pilze eindringt und hier gefangen wird und dieses nicht nur mit den Sinnen, sondern auch in kulinarischer Hinsicht.

Für ganz abgebrühte Pilzfanatiker noch ein paar Anmerkungen und Hinweise:
– Als besondere Delikatesse fanden wir an Wegesrändern im April/Mai Spitzmorcheln, entdeckt von meinem Vater
– In der Eifel sind an vielen Stellen im Mai die Maipilze zu finden, ein erster Frühjahrsgenuss
Im Hannoverschen Wendland gibt es Waldgebiete mit vielen Standorten Krauser Glucke, gebraten gehört sie zu unseren Favoriten
– Junge Flaschen-Stäublinge sind in Scheiben geschnitten, in Mehl, Ei und Paniermehl gewendet und dann gebraten eine zarte Versuchung wert
– Riesenboviste fanden wir zwischen den  Weinreben im Mosel-Saargebiet, in Scheiben geschnitten und in Mehl, Ei und Paniermehl gewendet und gebraten einfach umwerfend und zart, aber meist viel zu viel, denn sie werden groß wie ein Fußball


– Gebratene Herbsttrompete, oft unter Buchen und Stieleichen zu finden, gebraten köstlich, ein Geschenk unserer Nachbarin.
– Austernseitlinge gebraten, der muschel- bis fächerförmig wachsende graulila Blätterpilz ist als Baumpilz oder Zuchtform bekannt

Und wer keine Pilze kennt und trotzdem ein köstliches Pilzgericht essen möchte, dem empfehle ich gekaufte frische Rose-Champignons mit Seafoodsoße  und Shrimps oder einen Frühlingssalat mit Zucht-Champignons.

Immer Vorsicht bei Pilzen, manche vertragen sich nicht mit Alkohol!

Und viele Grüße vom Waldschrat