Spurensuche – Thüringer Reiseskizzen Teil 1 – Beobachtungen nach der Wende
Ein Zeichentrickfilm flimmert auf der kleinen an einer Hauswand ausgespannten Leinwand. Viel ist nicht zu verstehen. Die Menschenmenge auf dem Marktplatz in Pößneck ist zu unruhig.
„…von der Freiheit träumen …“ endet der Trickfilm, der die Kinder bis zur Rede des Bürgermeisters und dem Erscheinen des Weihnachtsmannes bei Laune halten sollte. Die Freiheiten hier sind so rasant größer geworden, dass es viele noch immer nicht fassen können.

„Mir ist gar nicht nach Weihnachten zumute“, sagt ein Nachbar trotz des weihnachtlichen Treibens auf dem Pößnecker Marktplatz. Mehr als 5000 Menschen waren es, die hier am 13. November 1989 schweigend für eine neue Zukunft demonstrierten. Jetzt ist der mittelalterliche Marktplatz der ca. 20 000 Einwohner zählenden Kreisstadt – entstanden Anfang des 16. Jahrhunderts – festlich erleuchtet. Ein riesiger schmucker Weihnachtsbaum bestimmt das Bild. Rund 1000 Menschen haben sich auf dem holprigen Pflaster versammelt mit bunten Laternen in den Händen. Wunderkerzen flackern auf.
„Liebe Kinder, liebe Eltern, liebe Gäste aus unserem Land und aus der Bundesrepublik Deutschland…“, das Klatschen der Menge unterbricht die Weihnachtsrede des Bürgermeisters Reissig.
„Zum 518 Mal findet dieses Lichterfest statt … einmalig ins ganz Deutschland …“
„Das hat er voriges Jahr nicht so gesagt“, raunt mein Nachbar seiner Begleiterin zu. Hinter mir notiert der Redakteur der Pößnecker „Volkswacht“ seine Eindrücke.
„Die dürfen jetzt alles schreiben, es ist richtig interessant geworden, Zeitung zu lesen.“ Begeisterung ist aus den Worten meines Nachbarn herauszuhören.
VOLKSWACHT-Organ der Bezirksleitung Gera der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, so hieß es vor der „friedlichen Revolution“ 1989. Jetzt nennt sich die Volkswacht Ostthüringische sozialistische Tageszeitung – die Inhalte haben sich weit mehr gewandelt als die Headline, nicht nur, dass der erste Frauenakt in einer der Dezemberausgaben gedruckt wurde. Im Kommentar zum Zeitgeschehen zitiert Dr. H. Gärtner nach dem Weihnachtsfest am 30. 12. 1989 Friedrich-Wilhelm Schorlemmer aus dessen Rede anlässlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille der internationalen Liga für Menschenrechte: „Ich wäre froh, wenn wir in beiden deutschen Staaten uns darauf verständigen könnten Friede vor Einheit zu sagen, damit wir schließlich einmal Einheit in Frieden gewinnen.“
Einheit, Föderation, Konföderationen sind die allerorts heiß diskutierten Schlagworte, oder die aufgestellten Symbole sprechen für sich: Die DDR-Flagge und die der Bundesrepublik sind nebeneinander aufgerichtet und durch breite Bänder miteinander verbunden über dem Ortsschild Pößneck. Kaum ein Ortsschild ohne den groß geschriebenen Zusatz: „Willkommen liebe Bundesbürger“ und sie kommen uns entgegen in ungeahnter Zahl: Auf der Autobahn von Jena nach Weimar zählen wir die Autos: Mehr als 60% stammen aus der Bundesrepublik, die Trabbis fielen in der bunten Mischung aus westlichen Fahrzeugtypen kaum ins Gesicht, hätten sie nicht ihr markantes Styling und ihre ‚hoppelnden‘ Fahreigenschaften. Bei derartigen Straßenverhältnissen kommt jedoch auch unser weitaus schwereres Fahrzeug fast ins Hoppeln. Schlaglöcher auf der Autobahn kennt man ja von den Transitstrecken, aber bereits die Abfahrten sind meist nur Kopfstein-Holperpisten. Fahrbahnmarkierungen fehlen in der Regel und auch die für uns so gewohnten Randpfosten mit schwarz-weißen Reflektoren gehören eher zum westlichen Luxus der letzten Jahrzehnte. Diese scheinen in so vielen Dingen spurlos in der DDR vorübergegangen zu sein. Nur der Zahn der Zeit ist allerorts spürbar. Vieles was wir am Wegesrand erleben, stammt aus längst vergangenen Zeiten. Nicht nur der alte holpriger Straßenbelag und die allzu oft renovierungsbedürftigen alten Häuser machen die Vergangenheit gegenwärtig.
„Um halb 4 Uhr von Weimar weggefahren bey Wetter sich an aufzuhellen bis Kahla, wo wir um dreiviertel 10 Uhr eintrafen. Die Pferde gefüttert und geruht bis nach 12 Uhr. Währenddessen starker Regen. Nachmittags schönes Wetter. Gegen halb 5 Uhr in Pößneck, wo 80 Mann französische reitende Artillerie mit schönen Pferden einquartiert. Im Goldenen Löwen logiert zwischen Prometheus und Epimetheus, die Schilderung der Pandora, vollendet und vorgelesen“, notiert Goethe am 12. Mai 1808 in sein Reisetagebuch.
Wir benötigen für die 58 km lange Strecke von Pößneck nach Weimar heute keine 13 Stunden mehr, sondern nur eine knappe Stunde. Trotzdem erscheint jene Zeit vor gut 180 Jahren noch an vielen Ecken gegenwärtig zu sein. So ist es auch in Weimar kein Problem, den Spuren dieser Epoche zu folgen: “ Hab ein liebes Gärtgen vorm Thore an der Ilm, schönen Wiesen in einem Thale. Ist ein altes Häusgen drinne, das ich mir reparieren lasse“, so berichtet Johann Wolfgang von Goethe von seinem neuen Besitz an Auguste von Stolberg 1776. In seinem Gartenhaus liegen seine Gerätschaften als wäre er noch anwesend oder gerade für kurze Zeit aus dem Haus gegangen. Charlottes Haus liegt schließlich nicht weit entfernt.

„Sie kommen aus der Bundesrepublik? Dann ist der Eintritt für Sie frei“, werden wir begrüßt. Die heutige Zeit hat auch ihre Reize! Aber wir würden so gerne bei einem Glas Tee oder Glühwein ein wenig mehr sinnieren über die Vergangenheit – oder die Zukunft, die seit einigen Tagen so neue hoffnungsvolle Perspektiven erlangt hat. Aber die Gegenwart holt uns schnell ein: Der DDR-Alltag hat ein anderes Gesicht: gemütliche Kneipen gibt es hier so gut wie nicht, HO- oder Konsumgaststätten sind meist dann geschlossen, wenn man sie aufsuchen will oder so hoffnungslos überfüllt, dass es schon der Geduld eines im Schlangestehen geübten Mitmenschen bedarf. Uns fehlt da doch einiges und so finden wir nichts, nicht in Weimar und auch nicht in der Umgebung. In einer Kreisstadt von rund 20 000 Einwohnern gibt es z. B.: ein Hotel, das wegen einer Busladung mit einer Reisegesellschaft von Weihnachten bis ins neue Jahr permanent ausgebucht und damit für Restaurantgäste geschlossen ist, ein Restaurant in einem abgelegenen Stadtteil, den Ratskeller am Marktplatz, in dem abends kein Essen serviert wird und ein Café, das meist bis 22 Uhr geöffnet hat.
In den Dorfgaststätten haben wir mehr Glück, auch wenn hier die Preise wegen der Preisgruppe 1 so erschreckend niedrig sind, dass man sich kaum getraut nach der Speisekarte zu fragen: Spiegeleier mit Bratkartoffeln und Salatbeilage 1,85 Mark, das teuerste Gericht kostet nur wenig mehr. Ich bewundere die angesichts der brutzelnden Gerichte in der Küche geschäftig hin und her eilende Köchin. Das Mehrfache hätte sie sicher für ihre Mühe verdient. Als Ergebnis serviert uns der Wirt genau das, was im bundesdeutschen Gaststätten inzwischen Mangelware ist: qualitätsvolle Hausmannskost ohne den Touch von Fertiggerichten oder Einheitssoße. Am Nebentisch wird es lauter die Stammtischrunde übt sich in Politdiskussionen. In den Vorstellungen der meisten ist die deutsche Einheit schon ein ganzes Stück näher gerückt.
Draußen vor der Gaststätte umfängt uns wieder eine richtige Dorfidylle: Dorfteich, Kirche und Gaststätte in der Mitte, die Gehöfte gruppieren sich um dieses Zentrum, schlichte Staketenzäune schließen das Dorf zur Landschaft hin ab, verwehren dem wildernden Fuchs den Zugang zu den Hühnerställen. Da fehlt der ausufernde Siedlungsbrei von Neubauquartieren, ungeordneten Einfamilienhausbereichen und Gewerbegebieten, die aus so vielen bundesdeutschen Dörfern unstrukturierte verstädterte Konglomerate gemacht haben. Ob diesen Dörfern der strukturzerstörende ‚Fortschritt‘ mit landschaftsschädlichen Eingriffen und unschönen Veränderungen jetzt bevorsteht?

Eine Gruppe fetter Gänse schlittert über den zugefrorenen Dorfteich. Sie werden diese Veränderungen wohl nicht mehr erleben.
Notiert zum Jahreswechsel 1989/90