Konzert der wilden Vögel

Dem Kranich auf der Spur
Die Faszination, welche die Vögel des Glücks auf uns ausüben, kann ich nur schwer beschreiben. „Der Kranich, fast so groß wie ein Mensch“, hat ihn Bengt Berg einmal beschrieben. Aber es ist nicht nur seine Größe und seine Eleganz und auch nicht nur sein lautes Trompeten. In großen Scharen fliegen sie über uns hinweg in ferne Quartiere. Ist es in die Sehnsucht nach der Ferne, die auch uns immer wieder umtreibt?

Wir sind wieder den Kranichen auf der Spur, wieder zur Zugzeit in der Diepholzer Moorniederung. Dem Kranich auf der Spur zu sein, diesem Ziel folgen wir schon seit den frühen 70er Jahren.
Anfang der 1970er Jahre drohte der niedersächsische Kranich-Brutbestand mit nur noch acht Revierpaaren zu erlöschen, sechs Paare brüteten damals im Elbe-Einzugsgebiet, zwei Paare gab es im Aller-Einzugsgebiet.
Viele Jahre fuhren wir ins Hannoversche Wendland, um diese selten gewordenen Vögel zu erleben. Waren es damals die letzten ihrer Art in Niedersachsen? Sie wurden streng bewacht von freiwilligen Hamburger Vogelschützern, die uns nach einigen Frühjahrstreffen schon kannten und immer mein langes 600 mm Teleobjektiv beäugten nach dem Motto: „Der wird doch nicht! … Bloß nichts verraten!“ Sehr einprägsam war damals ein Gespräch mit den Kranich-Schützern: „Haben Sie IHN gehört? ER ist wieder da!“ Es war eine kurze Unterhaltung, aber nie fiel der Name von IHM, dem Kranich. Nie ein Wort über das „Wo“. Heimlich, ja geheimnisvoll war ER, ein Vogelgeist, der ab und zu durch sein lautes Trompeten Kund tat: „Ich bin hier!“
Im Hannoverschen Wendland direkt an der damaligen Grenze zur DDR kannten wir bald Standorte, an denen wir regelmäßig im Frühjahr Kraniche beobachten konnten. Für uns waren es schon damals die „Vögel des Glücks“ – ein krasser Widerspruch zur Lage unserer Beobachtungspunkte, denn hier waren wir im „Schatten einer unmenschlichen Grenze, in direkter Nähe zum „Todesstreifen“ und zum Stacheldrahtzaun der ehemaligen DDR-Grenze.
1973 waren wir das erste Mal mit Freund Harald hier, um Kraniche zu beobachten, dann immer wieder und wieder den Stacheldraht vor Augen.




Ich lese in einem alten Tagebuch. vom 20. 07. 1986: „Kurz hinter Dömitz – Eine Elbe-Tour – Weiden, Pappeln, Eichen und Ulmen sind es vor allem, welche weite Strecken in eine parkartige Flussuferlandschaft verwandeln wie in fernen Ländern. Drei Bauern haben heute vor dem Zaun auf DDR-Seite ein Gatter gebaut. Ich habe ihnen zugewunken. Ob sie es gesehen habe? Deutsch/deutsche Begegnung“. Keiner ahnte die Entwicklung, die sich nur drei Jahre später vollzog.
Immer wieder zog es uns an die Grenze, wo die Natur wegen der fehlenden wirtschaftlichen Entwicklung im Schatten des Stacheldrahtes der ehemaligen Zonengrenze eine nahezu ungestörte Idylle ausstrahlte. Die Auenlandschaft des Elbholzes, die Bruchwaldgebiete des Blütlinger Holzes waren fast Schlüssel zu den Brutrevieren der Kraniche, die wir natürlich nur mit großem Abstand auf den Wiesen bei der Nahrungssuche beobachten konnten. Unseren Freund Harald mussten wir oft abends in Richtung Unterkunft drängeln, wenn es dämmrig wurde und die Kraniche rufend zu ihren Schlafplätzen flogen. Wir aber wollten noch ein spätes Abendessen im Hotel erhalten, denn Anke musste für Zwei essen.

Mitte der 1980er Jahre waren es dann schon mehr Kranichpaare und wir entdeckten Brutpaare sogar in Tele-Reichweite von den öffentlichen Wegen aus in den Qualmwasserbereichen und Feuchtgebieten zwischen Elbe und Peverstorf.
„Das Wetter hat die Lurche aktiv gemacht: Erdkröten quaken leise, Moorfrösche blubbern und die ersten Rotbauchunken läuten. Es ist viel los in den Tümpeln und Teichen. Kraniche und Gänse gibt es an den üblichen Stellen es ist nicht aufregend, aber idyllisch schön“, schreibe ich am 31. 03 1999 in mein Tagebuch. Da waren wir als Familie schon zu viert unterwegs. An einer Stelle wurde es aber aufregend: Ein Kranichpaar brütete in Sichtweite des Hauptweges zur Elbe. Besonders die „Wachablösung“ am Brutplatz wurde aufregend, da sich die Paare mit lautem Trompeten begrüßten.





Was wir erlebten, lässt sich an einer Statistik ablesen: Weit vor unserer Zeit um 1880 gab es im Gebiet des heutigen Bundeslandes Niedersachsen etwa 48 Brutplätze mit 70 Kranichbrutpaaren. Für 1949 werden 13 Brutplätze mit bis zu 15 Revierpaaren aufgelistet. Die Zerstörung der Biotope durch Entwässerung, landschaftliche und bauliche Änderungen führten bis Ende der 1960er Jahre zu einem dramatischen Rückgang bis zu einem Tiefpunkt der Arterhaltung in Niedersachsen. 1965 bis 1972 wurden nur noch acht Brutpaare der Kraniche aufgelistet. Nur im äußeren Osten in dem deutsch-deutschen damaligen Grenzbereich. Wir haben sie dort aufgespürt.
Es ist den unermüdlichen Naturschützern und den sich entwickelnden Naturschutz- und Umweltgedanken und Gesetzen zu verdanken, dass hier der Naturschutz eine nahezu einzigartige Entwicklung ermöglicht hat, die sich in einer trockenen Statistik wie folgt liest:
1985: 24 Revierpaare in Niedersachsen
1990: 86 Revierpaare in Niedersachsen
2008: 650 Revierpaare in Niedersachsen
2015: 920 Revierpaare in Niedersachsen.
Heute Brüten 200 Paare im Wendland. Leider viel zu selten erleben wir derartige Erfolgskurven. Bei den Gedanken an Birkhühner, Goldregenpfeifer, Uferschnepfen und Große Brachvögel, die wir alle noch in den norddeutschen Mooren erlebt haben, erinnern wir uns: Es war der Goldregenpfeifer, Vogel des Jahres 1975, der mich damals zum ersten Mal in die Diepholzer Moorniederung führte, wieder auf der Suche nach in den letzten ihrer Art. Laut Angaben im Internet sollen es derzeit noch 20 streng geschützte Goldregen-Brutpaare sein, die hier brüten.


Wir sind dieses Mal wieder auf der Suche nach Kranichen. 80.000 bis zu 100.000 Kraniche sollen es sein, die gleichzeitig in den Jahren 2011 bis 2015 in den niedersächsischen Mooren gezählt wurden. Da wir dieses Mal in der zweiten Septemberhälfte, also relativ früh in der Moorniederung unterwegs sind, ist es erst der Beginn der Vogelzugzeit der Kraniche. Die Maisfelder, auf denen die Kraniche sich vollfressen können, sind noch nicht abgeerntet und der Mais steht noch gut zwei Meter hoch. Nur an wenigen Stellen ist der Mais abgeerntet und wir halten Ausschau nach den ersten Kranichen der Herbstsaison.






Kurz hinter Aschen kommt es uns vor wie ein Glücksgeschenk und ich schreibe später ins Tagebuch am 17. 09. 2024: „104 Kraniche zähle ich vor uns auf einem abgeernteten Maisacker. Lautes Rufen zeigt eine „rege Unterhaltung“ der Vögel. Oft sind es Familienverbände. Die Jungvögel, die offenbar zum ersten Mal die große Reise in den Süden antreten, haben noch ein bräunliches Gefieder und sind am Kopf deutlich von den Altvögeln zu unterscheiden. Statt der lauten Rufe der Altvögel ist von ihnen nur ein hohes Fiepen zu hören. Die lange Luftröhre muss sich erst bei ihnen noch entwickeln. Das gewaltige Stimmvolumen der Altvögel, die noch aus Entfernungen weit über 2 km zu hören sind, stammt von der enormen Länge ihrer Luftröhre. Diese durchzieht als Doppelschleife das Brustbein und kann bis zu 1,3 m messen. Berücksichtig man, dass die übliche Sopranposaune eine Rohrlänge von 1,33 m hat, so kommt man der Stimmkraft des Kranichs wohl schon ziemlich nah.
Der Aussichtsturm am Rehdener Moor hat dieses Mal eine besondere Attraktion. Am Treppenaufgang weist ein Schild darauf hin, dass Vorsicht geboten ist: Ein Hornissennest hängt am Holzgerüst des Beobachtungsstandes. Da die großen – für viele furchterweckenden Stechinsekten eigentlich sehr friedlich sind, gehe ich die Treppen hoch und gerate bald ins Staunen. Ein rund 60 cm großes zylindrisches Papiernest höngt an den Holzbalken. Das kräftige Summen und die vielen Großinsekten laden nicht gerade ein zum Nähertreten. Von weiter unterhalb des Nestes ist sogar ein Blick ins Innere auf die Waben der Hornissen möglich, quasi ins Wohnzimmer der Großfamilie. Bis zu 400 Hornissen können ein solches Nest bevölkern, wenn die sich angegriffen fühlen, wird es sogar für Menschen gefährlich. Mit dem langen Tele mache ich einige Fotos vom Treiben dieser inposanten und majestätischen Insekten.





Im Moor ist es noch sehr ruhig, aber in der Umgebung begegnen wir immer wieder kleinen Kranichfamilien oder größeren Gruppen und sind begeistert von derartigen Begegnungen.







Der Turm am Großen Moor bei Darlaten ist dieses Mal unser besonderer Beobachtungsplatz. Wieder haben wir einige Kraniche schon unterwegs gesehen und vom Turm aus sind hin und wieder weit entfernte Rufe zu hören. Aber über dem Moor ist es noch absolut still, weite leere Moorflächen, die in dunkelbraune Töne eingetaucht vor uns liegen. Erst als die Dämmerung einsetzt fliegen ca. 50 Kraniche laut rufend an und landen auf der offenen Moorfläche. Bald kommen immer mehr der großen Vögel in kleinen und großen Gruppen mit lautem Getöse herbeigeflogen. Aus allen Richtungen hören und sehen wir sie. Bald landet ein großer Trupp relativ dicht vor uns im Moor. Eine großartige Stimmung: das Konzert der wilden Vögel des Glücks.
Noch imposanter wird es aber als die Sonne wie ein gelber Feuerball am roten Abendhimmel untergeht. Ein tolles Konzert und ein Abschied am Ende des Urlaubs.
